Das Kind
Sophie sich alle zwei Stunden den Wecker gestellt, um nach den Kleinen zu schauen. Jetzt sah sie nach den Zwillingen nur noch dann, wenn sie in der Nacht aufwachte, um auf die Toilette zu gehen. Und die beklemmende Angst, die sie früher dabei begleitete, war nun liebevolle Routine. Bis eben. Bis zu Roberts Anruf.
»Warum hast du gedacht, Felix würde noch leben?«
Die weiche Matratze gab nach, als Sophie sich zu Natalie aufs Bett setzte und ihr die traumfeuchten Haare aus der Stirn strich.
»Manchmal denke ich es immer noch«, fl üsterte sie. Dann küsste sie ihre Tochter sanft auf die Stirn und begann leise zu weinen.
Die Suche
Genauso, wie wir in unserem jetzigen Leben Tausende von Träumen erleben, so ist auch unser jetziges Leben nur eines von Tausenden, in das wir aus einem anderen, wirklicheren Leben eingetreten sind und zu dem wir nach dem Tode wieder zurückkehren.
Leo Tolstoi
Mit jedem Menschen ist etwas Neues in die Welt gesetzt, was es noch nicht gegeben hat, etwas Erstes und Einziges. Martin Buber
Geburtsnarben und Muttermale belegen die wiederholten Erdenleben des Menschen.
Ian Stevenson
1.
V ielleicht war es wegen der Übermüdung. Vermutlich kam
es zu dem Aufprall, weil er nicht nach vorne sah, sondern vor seinem geistigen Auge erneut die DVD ablaufen ließ. Gestern hatte Stern sich das nicht mehr getraut. Zumindest nicht in voller Länge. Er wollte Felix nicht noch einmal im Todeskampf sehen müssen. Deshalb war er gleich zu den Aufnahmen des Geburtstagskindes gesprungen. Immer und immer wieder hatte er den namenlosen Jungen angestarrt. In Zeitlupe, als Standbild und im schnellen Vorlauf. Nach der zehnten Wiederholung waren seine Augen so gereizt gewesen, dass er schon glaubte, rotstichige Abnutzungserscheinungen auf der DVD auszumachen.
Heute Morgen, nach einer schlafl osen Nacht, fühlte sich Robert schließlich wieder genauso hilfl os und zerstört wie am Tag von Felix’ Beerdigung. Er hatte seinen Halt in der Realität verloren. Sein rationales Juristenhirn war darauf trainiert, Probleme immer von zwei Seiten zu betrachten. Ein Mandant war entweder schuldig oder nicht. In diesem Punkt unterschied sich der persönliche Alptraum, in den er gestern gestoßen worden war, nicht von den Tragödien, die er berufl ich betreuen musste. Auch hier gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder Felix war tot, oder er lebte noch. Ersteres war am wahrscheinlichsten. Der Junge mit dem Feuermal mochte Stern wie aus dem Gesicht geschnitten sein. Ein Beweis war das noch lange nicht. Ein Beweis wofür?, fragte sich Robert, während er aus dem
Fahrstuhl des Krankenhauses trat. Wie immer, wenn er über ein schwieriges Problem nachdachte, baute sich vor seinem geistigen Auge eine nackte weiße Wand auf, an der er imaginäre Haftzettel mit seinen wichtigsten Hypothesen befestigte. In seinem Gehirn war für wichtige Fälle eine Art Rückzugsraum reserviert, den er immer dann betrat, wenn er seine Gedanken sortieren wollte. FELIX LEBT, prangte in großen Lettern auf dem größten Zettel von allen. Aber wie wäre das möglich?
Natürlich hatte er sich später, lange Zeit nach der Beerdigung auf dem Waldfriedhof, oft gefragt, ob Felix vielleicht vertauscht worden war. Doch er war damals der einzige Junge auf der Station gewesen. Die anderen drei Mütter hatten Mädchen entbunden. Eine Verwechslungsgefahr war damit völlig ausgeschlossen. Außerdem hatte er sich noch vor der Obduktion davon überzeugt, dass er wirklich den richtigen Jungen beweinte. Noch heute erinnerte er sich an das Gefühl, wie er den toten kleinen Körper auf dem Metalltisch anhob, damit seine Finger zum Abschied über das Feuermal streicheln konnten.
Also doch Wiedergeburt? Reinkarnation?
Stern zerriss den Gedankenzettel, bevor er ihn ernsthaft fi xierte. Er war Anwalt. Für Problemlösungen griff er auf Paragraphen zurück, nicht auf Parapsychologie. Sosehr es ihn schmerzte. Es blieb dabei. FELIX = TOT, schrieb er auf den dritten Zettel und wollte ihn gerade mental fi xieren, als seine Gedanken sich wieder einmal überschlugen. Aber wieso nur sät jemand Zweifel an seinem Tod? Und was
hat das alles mit Simon zu tun? Woher um Himmels willen
wusste der Junge von der alten Leiche in dem Industriekeller?
Stern fragte sich, was es über seinen Geisteszustand aussagte,
dass er sich an diesem Samstagmorgen auf den Weg in die Seehausklinik gemacht hatte, um jener letzten Frage auf den Grund zu gehen. Er war so in seine düsteren Gedanken
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