Das Kind
wusste Stern, dass das seit Simons Lungenentzündung immer ein Vorbote für einen epileptischen Anfall oder eine Ohnmacht war. So wie vorgestern, im Keller. »Ich suchte einen Schalter in meinem Kopf. So einen, mit dem man das Licht anund ausmachen kann.« »Hast du ihn gefunden?«
»Ja. Hat etwas gedauert, doch dann war er da. War irgendwie gruselig, weil ich doch meine Augen zuhatte.« Stern wusste, was als Nächstes kam. Um die Patienten zu manipulieren, musste der Therapeut ihr Bewusstsein deaktivieren. Das plastische Ausschalten des Verstandes mit Hilfe eines imaginären Lichtschalters war dabei eine beliebte Methode. Danach konnte der Parapsychologe dann in Ruhe dem Patienten etwas einreden. Stern war sich nur nicht sicher, welches Motiv Tiefensee dazu bewogen hatte. Warum Simon? Warum bei einem sterbenskranken Jungen mit einem inoperablen Hirntumor? Und warum hatte Carina von alledem nichts mitbekommen? Sie war vielleicht etwas spinnert und glaubte an übersinnliche Phänomene, aber sie würde niemals zulassen, dass ein Kind für üble Zwecke missbraucht wurde. Noch dazu eines, das ihr als Patient anvertraut war.
»Zuerst schaffte ich es nicht. Ich konnte ihn nicht umknipsen«, fuhr Simon mit ruhiger Stimme fort. »Der Schalter
fl utschte immer wieder zurück. Das war lustig, aber Doktor Tiefensee gab mir Tesafi lm.«
»Tesa?«
»Ja. Nicht in echt. Nur in meiner Phantasie. Ich sollte in meinen Gedanken den Schalter mit Klebeband festdrücken. Und das klappte sogar. Der Schalter hielt, und ich stieg in einen Fahrstuhl.«
Stern sagte nichts, um den Jungen an dieser entscheidenden Stelle nicht mehr abzulenken. Denn jetzt kam der eigentliche Teil der Rückführung. Die Fahrt ins Unterbewusstsein.
5.
I m Fahrstuhl war ein goldenes Messingschild mit vielen
Knöpfen. Ich durfte mir einen aussuchen und drückte die Elf. Dann ruckelte es, und ich fuhr nach unten. Sehr lange. Als die Türen endlich aufgingen, hab ich einen Schritt nach vorne gemacht. Ich stieg aus und sah …«
… die Welt vor meiner Geburt, ergänzte Stern in Gedanken
und wunderte sich, dass Simon den Satz ganz anders vollendete.
»… nichts. Ich sah gar nichts. Alles war schwarz um mich herum.«
Simons Blick war wieder völlig klar. Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Apfelsaft. Als er das Getränk wieder zurück auf das Tablett des Nachttisches stellte, rutschte sein 74
T-Shirt hoch, und Stern zuckte innerlich zusammen. Für
den Bruchteil einer Sekunde war über Simons Hüftknochen ein längliches Muttermal aufgeblitzt.
Die Narben der Wiedergeborenen!, dachte er unwillkürlich.
Die Hautveränderung besaß keinerlei Ähnlichkeit mit der von Felix. Oder mit der des Jungen auf der DVD. Aber sie erinnerte ihn unweigerlich an den Artikel über Ian Stevenson, den er heute Morgen gelesen hatte. Der verstorbene Professor und Chefpsychiater der Universität von Virginia war einer der wenigen Reinkarnationsforscher, dessen Fallstudien ernsthaft von anerkannten Wissenschaftlern diskutiert wurden. Stevenson hatte die Meinung vertreten, Narben und Muttermale seien wie seelische Landkarten und zeigten die Verletzungen von Menschen aus ihren früheren Leben an. Der Kanadier hatte Hunderte von Krankenakten und Autopsieberichten zusammengetragen und darin auffällige Übereinstimmungen mit den Hautveränderungen von angeblich wiedergeborenen Kindern gefunden. »Das verstehe ich jetzt nicht.« Stern versuchte sich wieder voll auf Simons Worte zu konzentrieren. »Woher wusstest du denn dann von der Leiche, wenn du sie gar nicht bei Doktor Tiefensee gesehen hast?«
»Na ja. Ich sah schon was. Aber erst als ich wieder aufgewacht bin. Carina sagte, ich hätte über zwei Stunden geschlafen. Ich weiß noch, wie traurig ich war. Es war doch mein Geburtstag, und auf einmal war es draußen schon dunkel.«
»Und als du aufgewacht bist, kamen dir diese bösen Erinnerungen?«
»Nicht sofort. Erst als ich im Auto saß und Carina mich fragte, wie es gewesen ist. Dann erzählte ich ihr. Von den Bildern.«
»Was für Bilder?«
»Die in meinem Kopf. Ich sehe sie nur ganz verschwommen. Im Dunkeln. Wie wenn ich träume und kurz vor dem Aufwachen bin. Kennst du das?«
»Ja, vielleicht.« Stern wusste zwar, wovon Simon sprach, aber seine Tagträume waren lange nicht so morbide. Es sei denn, er dachte an Felix.
Simon wandte den Kopf zum Fenster und sah nachdenklich nach draußen. Zuerst vermutete Stern, dass das Kind das Interesse an ihrer Unterhaltung verloren hatte und gleich
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