Das Knochenhaus
Knochenhaus.
Kit erkannte es sofort als die aus Knochen errichtete Behausung wieder, die En-Ul ihm dargestellt hatte – eine einfache Hütte, die aufgrund ihres Umrisses an einen kleinen Hügel erinnerte und aus den ineinander verzahnten Skeletten aller Arten von Tieren erbaut war. Es gab keinerlei Fenster im eigentlichen Sinne; die einzige größere Öffnung war ein niedriger Tunnel, der als Tür fungierte. Über dem Eingang hing der vollständige Schädel eines riesigen Elchs, dessen Geweihhälften so groß wie Palmenwedel waren. Der Türsturz bestand aus stabilem Elfenbein in Form von zwei gewaltigen, gekrümmten Mammutstoßzähnen. Etliche Stoßzähne von Tieren aus der Elefantenfamilie säumten auch die Basis des Hauses, das aus der fantastischsten Ansammlung von Skelettteilen zusammengefügt war: aus Becken, Beinknochen, Wirbelsäulen und einzelnen Wirbeln sowie unzähligen Rippen. Zudem gab es Schädel von mehr als einem Dutzend verschiedener Lebewesen – von verschiedenen Hirscharten ebenso wie von Bisons, Auerochsen, Pferden, Schafen und Antilopen, von Hunden oder Wölfen und sogar von einem Rhinozeros mit Horn. Dies waren die Tierschädel, die Kit zu erkennen glaubte; doch es gab noch viele weitere, die er nicht sogleich identifizieren konnte.
Als Ganzes betrachtet besaß das bizarre Gebilde eine ausgesprochen unheimliche, fremdartige Atmosphäre. Die Arbeitsgruppe begann, ihre Bündel aufzuschnüren und die herbeigebrachten Knochen in Spalten und Löchern des Bauwerks einzusetzen. Kit folgte ihrem Beispiel und suchte sich Stellen, in die er das einfügte, was er hierher getragen hatte. Sie arbeiteten zielgerichtet und schweigend. Wenn der eine oder andere durstig wurde, verließ er die Lichtung und aß ein paar Handvoll Schnee; anschließend kehrte er zurück und führte seine Arbeit fort. Als der letzte Knochen aus den Bündeln eingefügt worden war, ging es zurück zur Tötungszone, um eine neue Ladung zu holen.
Drei weitere Abstecher zum Knochenhaufen waren nötig, damit sie genügend Material hatten, um ihre Arbeit am Haus zu beenden. Der kurze Wintertag verging rasch, und die Arbeiter wurden hungrig: Zumindest Kit war am Verhungern, und er stellte sich vor, dass die Stammesmitglieder – die für gewöhnlich mehr als zweimal so viel wie er benötigten, um sich satt zu fühlen – inzwischen eigentlich bereit sein müssten, Bäume zu essen.
Thag trat zurück, wickelte sein Hanfseil auf und betrachtete das Knochenhaus. Er neigte dabei seinen großen zotteligen Kopf zu einer Seite, und zwar in genau der gleichen Weise wie ein Zimmermann, der seine Arbeit begutachtete. Es war eine solch klassische Pose, dass Kit unwillkürlich lächeln musste. Thag stieß ein Grunzen aus, das Zufriedenheit ausdrückte, und wandte sich vom Haus ab. Nachdem sie nun das offizielle Urteil empfangen hatten, grunzten auch die anderen und brachen auf.
Es war ein langer Weg zurück durch den Wald, und als die Arbeiter endlich zurückgekehrt waren, aßen sie eine herzhafte Mahlzeit. Anschließend gingen sie völlig erschöpft schlafen. Auch Kit schlief ein. Doch wenn er gedacht haben sollte, dass nach dem Schlaf ein erholsamer Tag folgen würde, dann hatte er sich getäuscht.
Denn kurz vor Sonnenaufgang wurde er durch eine Berührung an seiner Schulter aufgeweckt. Er öffnete seine Augen und sah, dass sich En-Ul neben ihn hockte. In seinem Geist tauchte ein besitzergreifendes Drängen auf; Kit deutete dies als die Aufforderung: Begleite mich!
Der alte Häuptling wandte sich ab, und Kit folgte ihm; lautlos bewegten sie sich durch das schlafende Lager. Von den Nachtfeuern waren nur noch Aschehaufen übrig geblieben, und am Firmament standen immer noch ein paar Sterne, die wie Eiskristalle am kalten, kalten Himmel leuchteten. Sorgfältig wählten sie sich ihren Weg vom Felssims hinab und fanden den gut ausgetretenen Pfad, der nach oben aus dem Tal hinausführte. Innerhalb von wenigen Minuten nach dem Verlassen der Siedlung begriff Kit, dass ihr Ziel das Knochenhaus war. Für jemanden, der ins Lager getragen worden war, besaß der greise En-Ul ein für Kit überraschendes Durchhaltevermögen. Sie hielten nur zwei Mal an, um zu rasten und zu Atem zu kommen – zuerst auf halber Strecke auf dem Pfad und dann hoch oben am Rande der Schlucht. Als die Sonne über den Bäumen aufging, erreichten sie schließlich die Waldlichtung.
Im spärlichen Licht des Winters leuchtete das seltsame Gebäude fahl und in einer fremdartigen
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