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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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jämmerliche Tränen. Doch mit dem Weinen kam ein Gefühl von Trost und Geborgenheit – wie bei einem Kind, das ins Torkeln geraten war und dank einer ausgestreckten freundlichen Hand wieder ins Gleichgewicht gebracht wurde. Wie eine Antwort auf sein Elend verspürte er nun Mitgefühl und Verständnis. Darin war nichts Übermächtiges oder Verdammendes. In seine Seele strömte einfach nur Annahme hinein.
    Als Kit seine Stimme wiederfand, war »Danke schön« das Einzige, was er sagen konnte.

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VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL

    D er Fluss-Stadt-Clan behielt sein Lager auf dem Felssims bei, während der Winter im Tal immer strenger wurde. Ein paar Tage nach der Ankunft der neuesten Stammesmitglieder bemerkte Kit, dass jeden Morgen bei Tagesanbruch alle jüngeren Männer die Wärme und den Schutz des Felssimses verließen und im Wald verschwanden, und ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang kehrten sie wieder zurück. So sehr sich Kit auch bemühte, er bekam nie eine Antwort auf seine zugegebenermaßen hölzernen Versuche herauszufinden, was diese Männer im Wald anstellten.
    Es war mehr als offenkundig, dass sie nicht jagten. Dardok und zwei Frauen führten ihre Jagdausflüge und Suche nach toten Tieren an dafür geeigneten Tagen fort, so wie sie es getan hatten, seitdem sie das Winterquartier bezogen hatten. Was auch immer diese jungen Männer im Schilde führten, es stand in keinem Zusammenhang mit der Lebensmittelversorgung des Stammes. Als Kit schließlich vor Neugier platzte, ging er zu En-Ul. Seit seiner Ankunft hatte sich der uralte Mann im hinteren Bereich des Felssimses mit Gewändern und Pelzen eingerichtet, wo er seine Tage damit zubrachte, den weit unten gelegenen, in Nebel gehüllten Fluss zu überblicken.
    »Es tut mir leid, dich zu stören, En-Ul«, entschuldigte sich Kit, nachdem er sein Erscheinen mit einem höflichen Husten angekündigt hatte. Bei den Gesprächen mit Stammesmitgliedern lernte er zu versuchen, einfache Angaben zu machen, während er die zu Debatte stehenden Bilder oder Begriffe nachdrücklich im Geiste behielt.
    Der alte Mann regte sich und wandte Kit ein glänzendes Auge zu. Sei hier willkommen, Ghidt , strömte in Kits Bewusstsein.
    Die Antwort überraschte Kit – nicht weil sie als solche ungewöhnlich war, sondern weil er dem Stammesältesten nicht seinen Namen genannt hatte. Außerdem war ihm auch nicht zu Ohren gekommen, dass irgendjemand seinen Namen in Gegenwart des Alten erwähnt hatte. En-Ul musste ihn durch die mentale »Funkverbindung«, die sie gemeinsam benutzten, von einem der anderen aufgegriffen haben.
    »Ich bin mit einer Frage gekommen«, fuhr Kit fort und ließ sich neben dem alten Häuptling nieder. »Die jungen Männer ...« Im Geiste stellte er sich die Betreffenden vor, wie sie ihm heute Morgen erschienen waren, als er gesehen hatte, wie sie das Lager verließen. »Wohin gehen sie? Was machen sie den ganzen Tag?«
    Kit empfing ein Bild von den jungen Männern, zusammen mit einem Gefühl von Tätigkeit ... von Arbeit ... von hingebungsvoller Mühsal: Sie machen es zu einem bestimmten Zweck – so interpretierte Kit diese Vorstellung. Einher damit kam der Gedanke der Verleihung ... der Präsentation ... der Unterbreitung einer Gabe, vereint mit einer persönlichen Bezeichnung: En-Ul.
    Nachdem Kit all dies miteinander verbunden hatte, versuchte er es mit einer Interpretation: »Sie machen ein Geschenk für dich?«
    Daraufhin erhielt er das übliche Grunzen, das Kit mit Zufriedenheit assoziierte: Ja . Der Alte hielt Kits Blick mit dem eigenen fest und legte mit einer langsamen, bedachten Bewegung die Innenfläche seiner Hand flach auf die Stirn des jungen Mannes. Die Berührung fühlte sich rau und schwer an, aber auch warm. Augenblicklich tauchte in Kits Bewusstsein das Bild von irgendeiner Art Haus oder Unterstand von außergewöhnlicher Form auf – die ungewöhnlichste Wohnstätte, die Kit jemals gesehen hatte: ein Haus, das ausschließlich aus Knochen errichtet war.
    »Sie machen ein Haus aus Knochen?«, entfuhr es Kit. Es war halb ein Ausruf der Verwunderung, halb eine Frage. »Für dich?«
    Wieder erklang dieses zufriedene Grunzen, während En-Ul seine Hand zurücknahm.
    Für einen Moment saßen sie schweigend beisammen. Dann erhielt Kit eine Empfindung, von der er gelernt hatte, dass sie mit der Frageform zu assoziieren war, und gleichzeitig die Vorstellung eines Anblicks oder von Sehen. »Ob ich es sehen will?«, fragte er laut und beeilte sich dann zu

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