Das Knochenhaus
sah er eine Fährte, die von einem der größeren Raubtiere stammen musste, die sie zu meiden suchten – ob von einem Löwen oder einem Wolf, vermochte Kit nicht zu erkennen. Doch seine Gefährten würden es wissen, und sie schienen der Spur keinerlei Beachtung zu schenken.
Ohne das Band aus niedergetretenem Schnee hätte Kit, wenn er allein unterwegs gewesen wäre, rasch den Weg verloren. Auf den Bäumen lag Raureif und gefrorener Nebel, und trotz der Schneedecke wirkte der Wald düster. Plötzlich gelangten sie an eine Falte in der Landschaft: ein kleiner Canyon, den ein Nebenfluss geformt hatte, der im Frühjahr die Schneeschmelze und im Sommer den Regen ins größere Tal brachte. Dort, wo sie standen, gab es einen schroffen Abhang, wo es fünfzig oder sechzig Fuß steil nach unten ging. Die Gruppe verweilte nicht an Ort und Stelle, sondern marschierte entlang der Kante der Schlucht weiter, bis sie einen Hohlweg erreichte, der nach unten zum trockenen Flussbett führte. Sie gingen nach unten und folgten weiter dem Hohlweg, der sich durch die Schlucht schlängelte – mal näher, mal weiter von der Felswand entfernt.
Plötzlich waren sie direkt unter dem schroffen Abhang, und genau dort lag ein fantastischer Haufen aus Knochen. Da sie ohne irgendwelche Fleischreste und teilweise von Schnee bedeckt waren, bildeten sie gewissermaßen einen »Weiß-auf-Weiß«-Hügel, der sich auf dem Boden des Flussbettes erhob. Mit einem Male begriff Kit, worauf sein Blick geheftet war: auf die Überreste einer primitiven, doch brutal effizienten Jagdmethode. Sie bestand darin, flüchtende Beutetiere über die Felsenklippe zu treiben, sodass sie durch den Sturz starben oder verletzt wurden und dann von den Jägern den Gnadenstoß erhielten. Dem riesigen Gewirr von Gerippen nach zu urteilen benutzte der Fluss-Stadt-Clan diese Tötungszone schon seit längerer Zeit.
Es gab Knochen aller Art, und einige davon waren so groß wie die von Dinosauriern. Kit war sich allerdings ziemlich sicher, dass keiner der hier herumliegenden Knochen von diesen längst ausgestorbenen Kreaturen stammten ... Dann wahrscheinlich von Mammuts? ... Oder vielleicht von Mastodonten? ... Oder waren das nur zwei verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Tierart? Alle diese Knochen lagen ungeordnet mit denen von Elchen, Rotwild und Antilopen zusammen. Außerdem gab es einige, die so aussahen, als ob sie von gigantischen Ochsen oder Büffeln stammten – es handelte sich jedenfalls eindeutig um die Überreste rinderartiger Tiere –; und ein paar schienen sogar Pferdeknochen zu sein.
Ohne sich vorher zu beratschlagen – tatsächlich beratschlagten sie sich niemals –, begannen die Stammesmitglieder, die größeren Knochen von dem Haufen zu ziehen, lösten sie von anderen Skelettteilen und legten sie zu kleineren, geordneteren Haufen zusammen. Warum einige Knochen ausgewählt und andere verworfen wurden, konnte Kit nicht so ohne Weiteres erkennen, gleichwohl beteiligte er sich an der Arbeit. Die Gruppe hatte bald eine ganze Anzahl ziemlich großer Stapel aufgeschichtet. Danach banden die Männer mit Seilen aus geflochtenem Hanf, die sie mitgebracht hatten, die Knochen zu Bündeln zusammen. Diese sperrigen Lasten wurden dann auf ihre Schultern gehievt und allein mit Muskelkraft aus der Schlucht herausgeschafft, indem sie den Hohlweg zurückgingen.
Als alle ausgewählten Knochen aus dem Friedhof nach oben gebracht worden waren, legte sich jedes Stammesmitglied ein oder zwei Bündel auf den Rücken und stapfte aufs Neue in den Wald hinein. Kit stellte fest, dass er nur das kleinere Bündel hochheben konnte, das er selbst zusammengebunden hatte. Und so nahm er es auf und folgte seinen Gefährten, die im Gänsemarsch in den dunklen, zum Teil von Schnee bedeckten Wald spazierten. Nach einer Weile gingen sie auf eine Lichtung zu, die einen verdächtig runden Umriss aufwies – einen nahezu vollkommenen Kreis. Daraus folgerte Kit, dass die Waldlichtung irgendwie vom Stamm geschaffen worden war. Er vermochte nicht festzustellen, wie sie dies zustande gebracht haben konnten, denn mit Ausnahme einfacher Steinäxte fehlte ihnen jegliches Handwerkszeug dafür. Dennoch gab es diese Lichtung hier: einen beinahe vollkommenen Kreis, der einen Durchmesser von etwa sechzig Fuß aufwies. Das Rund war von großen Kiefern und Lärchen umgeben, bot jedoch eine klare, ungehinderte Sicht auf den Himmel hoch über den Köpfen.
Und genau in der Mitte der Lichtung stand es: das
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