Das kurze Glueck der Gegenwart
Geschichten. Und der als Sohn eines irakischen Kurden und einer deutschen Mutter 1964 in Ostberlin geborene Sherko Fatah erzählt in »Das dunkle Schiff« aus dem gleichen Jahr sehr beklemmend-realistisch die Biographie eines irakischen Jungen, der von Gotteskriegern zum Terroristen ausgebildet wird und später nach Europa flieht, wo er nie wirklich heimisch wird. Die deutsche Gegenwartsliteratur kommt aus Bielefeld oder Schwackenreute, aus der Wetterau oder dem Urfttal, doch sie reicht bis an die Ufer der Drina und die Quellen des Nils.
Provinziell ist die deutschsprachige Literatur auch dann nicht, wenn sie von der Provinz erzählt. In einem kleinen, dichtbesiedelten, von Autobahnen durchzogenen Land ist die Rede von der Provinz ohnehin abwegig. Es gibt die Städte und es gibt die Suburbia, der Rest ist Landhaus. In den entvölkerten und überalterten Dörfern Brandenburgs stößt man vor allem auf Berliner Familien in der Sommerfrische. »Landlust«, so der Titel einer der erfolgreichsten Magazinideen aller Zeiten, liegt voll im Trend. Wenn die Herkunft aus kleinen Dörfern und Verhältnissen nicht mehr zum Stoff taugt, nehmen die weltweiten Wurzeln der Autoren die Rolle der geliebten oder verhassten, verlassenen oder zerstörten, jedenfalls verlorenen Heimat ein.
9.Was war das? Was kommt jetzt? Über die Gegenwärtigkeit von Tod und Sterben
Was hat die Gegenwart mit dem Tod zu schaffen? Ist die Beschäftigung mit dem Tod nicht immer zukünftig, auf ein, so hofft man, fernes »Irgendwann« gerichtet? Und müsste er der Gegenwart nicht gerade ein Dorn im Auge sein?
Schaut man sich einen der Gründungstexte der jungen Gegenwartsliteratur, Christian Krachts »Faserland«, noch einmal an, dann fällt auf, dass schon dieser Roman tödlich endet. Und gleich mehrfach. Der Erzähler war auf einer Party des Jugendfreundes, des tablettensüchtigen Millionärserben Rollo, in einem Anwesen am Bodensee. Am Ende verabschiedet er sich auf Französisch und rast mit Rollos Porsche nach Zürich, wo er froh ist, dieses furchtbar uncoole, historisch belastete Deutschland hinter sich gelassen zu haben. Doch aus der Zeitung des nächsten Tages erfährt er, dass Rollo, den er noch allein auf dem Bootssteg getroffen hatte, sich umgebracht hat. Verstört läuft der Erzähler durch Zürich, überlegt kurz, in eine Kirche zu gehen, aber die Tür ist geschlossen, »weil es eine protestantische Kirche ist, und die müssen nicht immer offen haben, so wie die katholischen Kirchen«.
Schließlich lässt er sich zum Friedhof auf dem Kilchberg fahren, um dort das Grab von Thomas Mann zu besuchen. In der hereinbrechenden Dämmerung findet er das Grab aber nicht. Schließlich läuft er zum Ufer des Sees, begegnet einem Mann im Ruderboot, den er darum bittet, ihn für zweihundert Franken auf die andere Seite des Sees zu fahren. Die Bootsfahrt auf dem Zürichsee – das ist ein literarischer Topos. Goethes berühmtes Gedicht »Auf dem See« hat das festgehalten; und zwei Verse aus Conrad Ferdinand Meyers »Eingelegte Ruder« könnten dem Seelenzustand von Krachts Ich als Motto vorangestellt sein: »Nichts, das mich verdross! Nichts, das mich freute! / Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!«
Doch noch viel stärker drängt sich die mythologische Anspielung auf: Der Ruderer ist Charon, der die Toten über den Acheron bringt. Schon bei den Griechen musste dafür ein Obolus entrichtet werden. Der vermeintlich erste deutsche Poproman, der Aufbruch in eine Literaturepoche endet mit einem düsteren, tiefschwarzen Todesbild, einem symbolischen Selbstmord.
Was aber hat Pop mit dem Tod zu tun? Nur auf den ersten Blick erscheinen die bedingungslose Hingabe an das Hier und Jetzt und die Achtung auf den letzten Dingen als zwei entgegengesetzte, ja einander ausschließende Haltungen zur Welt. Dabei kann ja das eine gerade aus dem anderen folgen, wie man ja bereits am Barock sehen kann, wo die Eitelkeit der Welt ihrer Nichtigkeit entspricht: vanitas vanitatum . Auch kann aus dem Wissen um die Sterblichkeit – bei gleichzeitigem Verlust aller Jenseitshoffnungen – eine Haltung des carpe diem erwachsen, des unbedingten, sofortigen Ergreifens aller Lebensmöglichkeiten: »I want it all and I want it now«, wie einer der obersten Energieverschwender der Popkultur, Freddy Mercury von Queen, sang.
Leben wir aber in einer neobarocken Epoche? Oder nicht vielmehr in Zeiten, in denen umgekehrt der Tod immer mehr verdrängt wird aus dem Alltag? So kann man es
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