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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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praktisch demonstrierendes Plädoyer für die Kraft der Hybridkultur, für eine deutschtürkische Variante der Kreolisierung. Später hat sich Zaimoglu stark in die politischen Debatten eingemischt (etwa im Rahmen der Islamkonferenz), sich literarisch aber auch stärker seiner Herkunft zugewandt, etwa in »Leyla«, in dem eine Familie in einer anatolischen Kleinstadt der fünfziger Jahre porträtiert wird. Hier findet sich nun all das, was den klassischen deutschsprachigen Provinzroman oder Antiheimatroman ausmacht – besonders ausgeprägt in Österreich von Franz Innerhofer bis Norbert Gstrein: starre Geschlechterrollen unter einem tyrannischen Vater, Frömmelei, harte körperliche Arbeit und Bildungsfeindlichkeit. Mit der Eroberung dieses klassischen Genres ist Feridun Zaimoglu endgültig in der deutschen Literatur angekommen.
    Terézia Mora ist die Reflexion ihrer Herkunft und die Frage nach der Identität in ihrem ersten Roman »Alle Tage« (2004) spielerischer und experimenteller angegangen: Ihre Hauptfigur Abel Nema ist die Verkörperung der Fremdheit an sich: ein Sprachgenie, hochbegabt, hilflos den Wirren einer unbekannten Großstadt ausgeliefert mit all ihren Verlockungen und falschen Versprechen, doch zugleich mit einer ungeheuren, der Vernunft widersprechenden Leidenschaft und Energie ausgestattet. Mercedes, die ihn halb aus Pragmatismus, halb aus Liebe heiratet, nimmt bei ihrer Hochzeit schon allerlei bekannte Gerüche an ihm wahr, »aber diese sind Nebensache, denn was wirklich wesentlich war in dem Moment, war etwas, was die Braut Mercedes nicht hätte benennen können, das wie ein Wartezimmer roch, wie Holzbänke, Kohleofen, verzogene Schienen, ein in die Böschung geworfener Pappesack mit den Resten von Zement, Salz und Asche auf einer eisigen Straße, Essigbäume, Messinghähne und pechschwarzes Kakaopulver, und überhaupt: Essen, wie sie es noch nie gegessen hat, und so weiter, etwas Endloses, wofür sie gar keine Worte mehr hat, stieg aus ihm hoch, als trüge er ihn in den Taschen: den Geruch der Fremde. Sie roch Fremdheit an ihm.«
    Dieser Abel Nema kommt aus dem Osten, aus einem Staat, der gerade zerfallen ist, und er kommt zugleich nie in Berlin, das nicht so genannt wird, wirklich an. Er hat Mentoren und Geliebte, doch ihre Zuwendung und Liebe (und Geld) reichen nicht aus, um diesen immer schon verlorenen Menschen zu retten, von dem es einmal heißt, er habe so viele Sprachen gelernt, um sich noch einsamer zu fühlen. Und für diesen Menschen, der so hilflos und passiv zwischen Gegenwart und Vergangenheit pendelt wie in der Schluss- und der Anfangsszene zwischen Leben und Tod, für den findet Terézia Mora eine virtuose, variantenreiche und melodiöse Sprache, die ihrem Gegenstand dennoch nie zu nah auf den Pelz rückt. Dieser Abel bleibt fremd, eine Christusfigur, dessen Passionsgeschichte auf eine Erlösung hinsteuert.
    Auch der bereits für seine Darstellung des Bosnienkrieges aus Kinderperspektive gewürdigte Sa Š a Stani Š ić gehört in diese Reihe der jungen Migrationsliteratur. »Als der Soldat das Grammofon reparierte« erschien 2006; im gleichen Jahr kam der neue Roman von Ilija Trojanow, »Der Weltensammler«, heraus. Mit diesem mehrere Kontinente umspannenden Roman hat die deutsche Gegenwartsliteratur schließlich auch eine eigene Variante der im angelsächsischen Sprachraum etablierten postcolonial literature vorzuweisen. Und das fast ganz ohne Kolonien.
    Trojanow fiktionalisiert darin die ohnehin schon märchenhafte Lebensgeschichte des britischen Entdeckers, Diplomaten und Schriftstellers Richard F. Burton (1821 bis 1890), der vor allem durch seine Übersetzung von »Tausendundeiner Nacht« bekannt geblieben ist, aber eine der schillerndsten Figuren seiner Zeit war. Trojanow hat sich auf drei Stationen des überreichen Lebens Burtons konzentriert, für die er jeweils eine eigene erzählerische Form wählt und die er durch einen Prolog und einen Epilog über Burtons Tod in Triest einrahmt.
    Der erste im heutigen Indien und Pakistan spielende Teil erzählt, wie Burton bei einem hochgebildeten Lehrer Hindustani und die ganze Weisheit der indischen Kultur kennenlernt. Erzählt wird die Geschichte allerdings durch Burtons damaligen einheimischen Diener Naukaram, der seine Erinnerungen einem professionellen Schreiber diktiert. Dieser Ghostwriter, der immer weitere Details über Naukarams merkwürdigen Herrn wissen will, die kargen Beschreibungen und leeren Stellen ausschmückt und

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