Das kurze Glueck der Gegenwart
dramatisiert und scheinbar nie an ein Ende kommt, wird zum Alter Ego des Autors, zum Verfasser eines Romans im Roman: Das Imperium schreibt zurück.
Indem Trojanow sich die Sicht der Inder (und später der Türken und Araber und Afrikaner) zu eigen macht, wird Burton ihm zum Fremden – und damit mehr als die andere, unbekannte Kultur zum eigentlichen Faszinosum, zum Rätsel des Romans. Diese Verkehrung der Rollen bleibt daher keine abstrakte Botschaft der Völkerverständigung, sondern wird zur konkreten Erfahrung, die der Leser macht – und mit der Hauptfigur teilt. Denn Burtons besessenes Studium wird mehr und mehr zum Selbstzweck. Zwar dient er bis zuletzt als Spion seiner Majestät, doch endet sein Dienst in Indien, als er sich weigert, seine Informanten in einer heiklen Angelegenheit – es geht um homosexuelle Ausschweifungen britischer Offiziere – preiszugeben: Er habe »auf meinen Bart und auf den Koran geschworen«. Aus dem going native – wie die Ethnographie die Anpassung des Forschers an seine Forschungsgegenstände nennt – führt kein Weg mehr zurück. Aus Burtons Tarnung ist eine Doppelexistenz geworden.
Burton erscheint als das, was die Ethnographie einen Trickster nennen, eine unendlich wandelbare Proteus-Gestalt. In Arabien, auf der dramatisch geschilderten Pilgerfahrt an die heiligen Stätten, hat sich diese Wandlungsfähigkeit bereits perfektioniert. Hier sind es die osmanischen Behörden, die, in Unruhe versetzt durch das Erscheinen seines Reiseberichts, nachträglich den näheren Umständen nachgehen. Doch ihre Verhöre der muslimischen Mitreisenden stoßen ins Leere: Alle haben in Burton jemand anderen, niemand aber den Ungläubigen erkannt.
Schließlich, im dritten Teil, wird die Geschichte der Burton-Speke-Expedition in Ostafrika erzählt, die um ein Haar tödlich geendet hätte. Hier verschränkt Trojanow die Sicht des von Fieberschüben geplagten Burton mit den mündlichen Erzählungen seines Führers und Übersetzers Sidi Mubarak Bombay. Dieser Sidi ist eine Spiegelfigur, weil er als ein seiner Heimat gewaltsam entfremdeter Sklave auf der Reise ebenfalls einen Identitätswandel erfährt. Was für die wazungu , die Europäer, Neuland ist, ist ihm Heimatboden. Afrikanisches und westliches Denken werden eindringlich gegenübergestellt: Wo dort Rückkehr ist, ist hier Aufbruch zu neuen Ufern, wo dort die Vergangenheit demütig geachtet wird, ist hier ein gieriger Blick auf Zukunft und Veränderung gerichtet.
Doch solche Oppositionen, die man in anderem Kontext leicht als verfälschendes othering , als Andersmachen, brandmarken könnte, verfestigen sich bei Trojanow nie zu Stereotypen. Ganz nebenbei flicht er Weisheiten, Sprichwörter und Erfahrungen ein, die wieder verblüffende Nähe zum westlichen Common Sense aufweisen. Dem Afrikaner ist ein Burton genauso rätselhaft und unheimlich wie seinen viktorianischen Zeitgenossen, denen der erfahrungshungrige, vor allem im Erotischen vorurteilslose Entdecker ein Dorn im Auge war. Der junge italienische Priester, der das Totensakrament zu spenden hat, versucht in Prolog und Epilog Gewissheit darüber zu erlangen, wie Burton es denn jetzt mit der Religion gehalten habe – wie schon zuvor die arabischen Glaubenswächter. Doch vergebens: Der Weltensammler ist in keiner seiner Masken zu greifen. Wie Terézia Mora gelingt Trojanow das scheinbar Widersinnige: über Hunderte von Seiten hinweg die Hauptfigur dem Leser fremd bleiben, ja immer fremder werden zu lassen. Umgekehrte Migration: Der Entdecker wird zum Entwurzelten. Der Change-Literatur wächst hier ein natürliche Genre zu: Die Literatur, die von Wanderungen, von Seitenwechseln und Brüchen erzählt, lässt auch den Leser nicht am gleichen Ort zurück, an dem er zu lesen begonnen hat.
Die Erörterung von Fragen nach Herkunft und Identität reicht so vom abgesteckten Claim der Kindheit bis zum großen Weltentwurf, von der kleinsten Hütte bis zum prunkvollen Erzählpalast. In der Literatur hat sich die Integration, auf die der Fußball so stolz ist, schon viel früher und viel nachhaltiger vollzogen. Der Buchpreis für Melinda Nadj Abonji ist nur die logische Konsequenz einer seit Jahren beobachtbaren Entwicklung. Die aus Buenos Aires stammende María Cecilia Barbetta schrieb mit ihrem furios-verspielten Textgewebe »Änderungsschneiderei Los Milagros« (2008) eines der ambitioniertesten Debüts der letzten Jahre: die Familiengeschichte als Flickenteppich und Fadengewirr von
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