Das kurze Glueck der Gegenwart
Dingen. Hört und sieht man nur genau hin, ist alles wert, erzählt zu werden: »Alles, was je gewesen ist, treibt jetzt mit dem Fluss zum Rauschen hinunter.« Da hat Scheuer noch eine Menge Stoff an der Angel, das nächste Buch über Kall ist bereits im Entstehen.
Scheuer ist ein Extremist der erzählerischen Mikroskopie. Ein ähnlicher Fall ist der Frankfurter Peter Kurzeck, dessen Werk schon seit den achtziger Jahren die Vermessung eines autobiographischen Schrebergärtchens ist. In seinen letzten Romanen »Übers Eis« (1997), »Als Gast« (2003), »Kirschkern im März« (2004) und »Oktober oder wer wir selbst sind« (2007) hat er das Projekt verfolgt, das Jahr seiner persönlichen existentiellen Lebenswende, das Jahr 1984, in immer neuen Anläufen zu kartographieren. In jenem Jahr verließ ihn seine Lebensgefährtin mit der gemeinsamen Tochter, und wie Kurzeck dieses traumatische Ereignis umkreist – es einkreist, sich ihm nähert und jenes Jahr zugleich durchsichtig macht auf frühere Lebensphasen –, das ist ganz große »proustische« Erinnerungskunst. Während Scheuer immer noch seinen Anker in der Gegenwart behält, will Kurzeck tatsächlich einen früheren Bewusstseinszustand rekonstruieren beziehungsweise nachträglich einen Alltag zum Festleuchten bringen, der im damaligen Erleben selbstverständlich und banal erschien. Da der Autor in jener Zeit aber selbst schon literarische Werke schrieb, und zwar Erinnerungen an die früheste Kindheit des aus Böhmen vertriebenen Flüchtlingskindes (er ist Jahrgang 1943), entsteht so ein mehrlagiges Gedächtnisbuch. Auch das ist eine Form von Migrantenliteratur, die man vielleicht erst heute, ohne jede Gefahr des politischen Revisionismus, so nennen kann – weil man auch die Parallelen zu einer jüngeren, nicht deutschstämmigen Literatur unter den Vorzeichen der Globalisierung erkennen kann. Tatsächlich lässt sich schon länger die Tendenz ablesen, dass die Stoffe und Formen der Heimatliteratur in die Migrantenliteratur abgewandert sind. Was ja auch ganz logisch ist, nachdem die Globalisierung jene Binnenwanderung ersetzt hat, die sprachlichen und kulturellen Benachteiligungen der Einwanderer die Herkunft aus dem Dorf als soziale Schranke ersetzt haben. Oder diese noch verschärft haben, denn viele Einwanderer kommen zusätzlich aus ländlichen Verhältnissen. Die weite Welt ist längst die neue Provinz geworden.
In diese Kategorie gehören beispielsweise auch die seit ihrer Ausreise in den Westen entstandenen Werke der Nobelpreisträgerin Herta Müller, in fast klassischer Weise ihr erstes in der Bundesrepublik entstandenes Werk »Reisende auf einem Bein« (1998), das von den Schwierigkeiten einer jungen Frau erzählt, in ihrem neuen Leben in Westberlin anzukommen. Es zeugte daher von einer bedenklichen Verkürzung des Gedächtnisses, als man im Jahr 2010 auf einmal die Romane von Migrantenkindern als neuen Trend ausrufen wollte. Ganz absurd wird es dann, wenn dazu auch Doron Rabinovici gehören soll, ein Wiener Jude, dessen Familie zwar, als er drei Jahre alt war, aus Tel Aviv nach Wien zurückkehrte, dessen Vater aber bereits bis 1938 dort gelebt hatte.
Aber selbst wenn man die Migrantenliteratur klassisch nach dem Modell des darauf spezialisierten Adalbert-von-Chamisso-Preises der Robert-Bosch-Stiftung definiert – als deutschsprachige Literatur von Autoren, deren Muttersprache nicht Deutsch ist –, selbst dann liegt der vermeintliche neue »Trend« mindestens zehn Jahre zurück. Noch vor der Jahrtausendwende traten neben die älteren Vertreter von Einwandererliteratur wie Rafik Schami oder Emine Sevgi Özdamar jüngere Autoren wie Terézia Mora, Feridun Zaimoglu oder Ilija Trojanow. Bei gut fünfzehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland (Aussiedler eingerechnet) ist eine fein säuberliche Trennung ohnehin eine statistische Chimäre. Dass Menschen und so auch Schriftsteller überall herkommen, ist seit den sechziger Jahren ein Stück deutsche Geschichte. Gegenwart ist, dass sie darüber schreiben. Zukunft, dass sie auch gelesen werden.
Ilija Trojanows Debüt »Die Welt ist groß und Rettung lauert überall«, in dem er die Geschichte seiner Familie als Flüchtlinge aus Bulgarien verarbeitete, erschien 1996, ein Jahr nach »Kanak Sprak«, dem wütenden Fanal einer jungen Generation türkischstämmiger Deutscher, mit dem Feridun Zaimoglu sich – bis heute – zum Sprachrohr der Migranten machte. Das war ein die eigene These
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