1446 - Der Eis-Schamane
Der Mann fluchte. Dabei ging er in die Knie. Er wollte keinesfalls auf den kalten Boden fallen, denn etwas in ihm wehrte sich heftig dagegen. Es konnte der Überlebenswille sein, und der trieb ihn noch einmal in die Höhe.
Er richtete sich auf. Bisher hatte er noch nicht gesehen, wer ihn da attackiert hatte. Langsam drehte er sich um, denn er wusste, dass der Angreifer noch in der Nähe lauerte.
Und da war er wieder.
Er verdunkelte das Gesichtsfeld des Mannes. Er schwebte vor ihm in der Luft. Es war ein Vogel und zugleich – der Mann konnte es kaum glauben – ein Mensch.
Beides?
Diese Frage schrillte durch seinen Kopf. Es war verrückt, einfach nicht möglich. Er riss den Mund auf und sah, dass sein Gegenüber das Gleiche tat.
Nur war es kein Mund, sondern ein Schnabel!
Verbunden mit einem so großen Kopf, den es eigentlich nicht geben konnte und durfte. Und er sah den Schnabel auch nicht als das an, was er tatsächlich war, ihm kam er vor wie die beiden Schneiden einer Schere.
Augen oder Glutkreise?
Der Mann an der Hütte riss seine Arme hoch. Es war eine natürliche Schutzbewegung, die jeder in dieser Situation vollführt hätte, aber sie brachte ihm nichts mehr ein. Der Kopf des Vogelwesens war schneller und erst recht der Schnabel, der blitzartig zuhackte.
Die dicke Kleidung half dem Mann nichts mehr. Der scharfe Schnabel riss sie auf. Die nächsten Hiebe erwischten seine Hände.
Aus den Wunden sprang das warme Blut, und das fliegende Monster vor ihm hackte weiter.
Der Mann wusste nicht genau, was mit ihm geschah. Es war glatt vor der Hütte. Auf einem Eisstück verlor der Angegriffene das Gleichgewicht und fiel auf den Bauch.
Zuvor prallte er noch mit dem Gesicht gegen eine Tonne. Im Sommer wurde darin das Regenwasser gesammelt. Zu dieser Jahreszeit bestand der Inhalt aus Eis.
Ich muss hoch! Ich muss weg – fliehen!
Die Gedanken waren da. Nur schaffte es der Mann nicht, sie in die Tat umzusetzen. Die andere Seite kannte kein Pardon. Sie hackte unbarmherzig zu.
Schmerzen schossen durch seinen Kopf. Im Kopf war es besonders schlimm. Er wurde nicht bewusstlos und musste erleben, wie ihm das linke Ohr einfach durchtrennt wurde. Blut spritzte und tropfte in den Schnee.
Der Angreifer gab keine Ruhe. Was er begonnen hatte, das führte er auch durch, und das bis zum bitteren Ende…
***
»Ab jetzt wird es schlimm!«, sagte Mike Todd.
»Warum?«
Der Förster grinste. »Wir müssen raus aus der warmen Stube. Das ist nun mal so.«
»Eine Stube, die vier Räder hat.«
Mike Todd bremste, bevor er lachte. »Sie glauben gar nicht, Maxine, wie oft ich hier in meinem Wagen sitze und mir vorstelle, in meinem warmen Haus zu sein. Der Winter kann manchmal verdammt hart sein.«
»Und kalt.«
»Sie sagen es.«
Da der Geländewagen stand, nahm Maxine Wells die Chance wahr, sich loszuschnallen und auszusteigen. Die Kälte empfand die Tierärztin eigentlich nicht so arg. Der Wind war schlimmer. Es war kein Sturm und auch kein Orkan, nur der normale Wind, der ständig über diese Hochebene blies. In Verbindung mit der Kälte allerdings fühlte er sich auf der Haut verdammt eisig an, und der Mensch nahm die Temperaturen als viel kälter wahr. Die Kälte biss in die Haut der Tierärztin, und Maxine zog schnell die innen gefütterte Kapuze in die Höhe. Sie rückte auch ihre Sonnenbrille zurecht, um nicht durch den hellen Schnee und durch die Sonne geblendet zu werden.
Alles war anders als sonst. Die Umgebung war unter einer dichten weißen Decke begraben. Wer negativ dachte, der konnte sie auch als ein gewaltiges Leichentuch ansehen, aus dem hin und wieder kahle, dunkle, laublose Bäume wie Skelettfiguren ragten, als wollten sie in der weiten Landschaft bestimmte Markierungen setzen.
Ein Weg war nicht zu erkennen. Wer hier lebte, der musste sich schon auskennen. Das war bei Mike Todd kein Problem. Er war so etwas wie ein Oberförster und verantwortlich für die gesamte Region, die erst jenseits des Himmels endete. So jedenfalls lautete seine Aussage.
Maxine drehte sich um. Sie schaute auf die Spuren, die der Geländewagen hinterlassen hatte.
Die Stiefel der Tierärztin hatten breite Sohlen und waren deshalb geeignet, um sich auch im tiefen Schnee bewegen zu können.
Eine leere, allerdings auch prächtige Winterlandschaft.
Über allem lag der Himmel in einem schon kitschigen Blau. Die Sonne stand darin als goldener Kreis. Aber es war Januar, sie stand nicht so hoch am Himmel, und ihre Strahlen besaßen
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