Das Labyrinth des Maal Dweb
gewaltigen Quadern der obersten Lage, die herabgefallen oder weggebrochen waren, erweckten die Mauern den Eindruck nahezu perfekter Erhaltung. Der Tempel wurde umgeben von einem Dickicht aus Palmen und Jackfruchtbäumen sowie allerhand tropischem Buschwerk. Doch aus unerfindlichen Gründen hatte keines dieser Gewächse innerhalb der Mauergrenzen Wurzeln geschlagen. Zwischen Haufen jahrhundertealten Schutts ließen sich noch Teile einer Bodenpflasterung erkennen.
Im Zentrum der Ummauerung ragte ein mächtiger würfelförmiger, etwa eineinhalb Meter hoher Steinblock empor. Einst mochte er als Altar gedient haben. Grobe Symbole, die offenbar den Mond in seinen sämtlichen Phasen darstellten, fanden sich in die Flanken eingemeißelt, und in der Mitte der Oberseite prangte eine Mulde, von der eine abfallende Rinne bis zur Altarkante verlief. Wie auch alle übrigen Bauwerke dieser Art hatte der Tempel offenkundig niemals ein Dach besessen.
»Stimmt. Die Symbole sind unverkennbar mondbezogen«, pflichtete Thorway bei.
»Und ich bin ferner der Ansicht«, fuhr Morley fort, »dass in diesen Tempeln rituelle Menschenopfer dargebracht wurden. Nicht nur zu Ehren der Sonne, sondern auch des Mondes wurde Opferblut vergossen.«
»Eine vertretbare Theorie, durchaus«, versetzte Thorway. »Menschenopfer waren in einem bestimmten Stadium der Menschheitsentwicklung keine Seltenheit. Gewiss könnte das Volk, das diesen Tempel erbaut hat, solche Bräuche gepflegt haben.«
Morley merkte nicht, wie kühl und pflichtschuldig die Zustimmung seines Kollegen ausfiel. Ihn erfüllten Empfindungen und Vorstellungen, die teilweise nicht mehr als bloße Nebenwirkung seiner archäologischen Forschungen gelten konnten. Wie schon bei früheren Besuchen zahlreicher anderer dieser uralten Ruinen litt er unter einer nervösen Erregung, in der sich Ehrfurcht mit Grauen und eine namenlose, gespannte Faszination mit einem Gefühl der Vorerwartung untrennbar mischten. Hier allerdings, inmitten dieser mächtigen Mauern, schien diese Empfindung stärker als an jedem der zuvor aufgesuchten Orte. Und sie steigerte sich bis zu einem Ausmaß, das wahrhaft angsteinflößend wirkte und dem bangen Gewahrwerden ähnelte, welches den Trugbildern des Fieberwahns vorausgeht.
Die Vorstellung, dass es sich bei dem Tempel um eine Stätte des Mondkults handeln mochte, hatte ihn mit solcher Macht ergriffen, dass es schon eher einer persönlichen Erinnerung denn einer wohlbegründeten Schlussfolgerung gleichkam. Außerdem befielen ihn Sinneseindrücke, die fast Halluzinationen ähnelten. Obzwar die Wärme eines Tropentages herrschte, verspürte er eine eigentümliche Kälte, die den Mauern entströmte – als sei es die Kälte verflossener Jahrtausende. Und die kurzen Schatten unter dem Licht der Mittagssonne wirkten bevölkert von verborgenen Gesichtern.
Mehr als einmal rieb er sich die Augen, vor denen binnen Sekundenbruchteilen geisterhafte Farbfilmbilder, gleich dem Aufblitzen gelber und purpurner Gewänder, abliefen und wieder abrissen. Obwohl kein Lufthauch sich regte, ließ ihn das Gefühl nicht los, dass um ihn her ständige Bewegung herrschte, wie von einem Auf und Ab geisterhafter Menschenmengen.
Höchstwahrscheinlich waren viele Jahrtausende vergangen, seit menschliche Füße dieses Pflaster berührt hatten. Und doch war Morley zum Schreien zumute, so spürbar gegenwärtig erschienen ihm die längst versunkenen Zeitalter. Innerhalb eines einzigen flüchtigen Moments kam es ihm so vor, als habe sein ganzes Leben ebenso wie seine Reisen und Entdeckungsfahrten in der Südsee nur eine umwegreiche Rückkehr in einen früheren Daseinszustand dargestellt, als stehe der Wiedereintritt in dieses Stadium kurz bevor. Zugleich erfüllte all dies ihn auch weiterhin mit äußerster Verstörung: Er fühlte sich, als sei ein fremdes Bewusstsein in ihn eingedrungen.
Er hörte sich selbst zu Thorway sprechen, und die Worte kamen ihm fern und fremd vor, als entstammten sie dem Mund eines anderen.
»Sie waren ein heiteres und ein kindliches Volk, jene Bewohner von Mu«, äußerte er soeben. »Und doch trugen sie nicht nur Heiteres, nicht nur Kindliches an sich. Sie besaßen auch eine dunkle Seite … frönten einem dunklen Kult: dem Kult der Finsternis und der Nacht, verkörpert im Mond, dessen weiße, grausam kalte Lippen nur vom warmen Blut gesättigt und besänftigt werden konnten, das auf ihren Altären floss. Sie fingen das Blut in Kelchen auf, während es aus den
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