Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
hatte brennenden Durst und rasende Kopfschmerzen. Vor seinen Augen tanzten weiße Punkte, aber es mischten sich auch immer wieder fremdartige Bilder darunter.
Ihm schien es, als könne er ein Stück seines alten Lebens sehen, und was da zum Vorschein kam, machte ihm Angst. Da war diese alte Frau. Sie hatte dünnes, strähniges Haar. Unzählige Falten teilten das Gesicht in eine Landschaft voller ausgetrockneter Flussläufe. Schwarze Murmelaugen blickten ihn klagend an. Ein dürrer Zeigefinger wedelte drohend vor seinem Gesicht.
»Du hättest auf sie aufpassen sollen, aber du hast gespielt, mit diesem Teufelskasten, der dein Leben auffrisst, Tian«, hatte sie gesagt. »Nun ist deine Schwester verschwunden und niemand weiß, wo sie ist. Du bist schuld.«
Er hatte versagt. Er wusste es. Versagt, wie schon so oft, aber diesmal würde es kein Verzeihen geben. Seine sechs Jahre alte Schwester Szu war aus der Wohnung gegangen, während seine Eltern arbeiteten und er »Last Man Standing Berlin« auf der Playstation spielte. Wahrscheinlich wollte sie zu dem winzigen Park, der zu ihrer Wohnanlage gehörte, aber dort war sie nie angekommen. Jetzt war sie verschwunden.
Und ich bin schuld.
Er hatte keine Tränen mehr, denn sonst hätte er geweint.
Was habe ich getan?
Szu? Wo bist du?
Verzeih mir.
Es gab niemanden, der ihm antwortete, nur das Echo seiner Gedanken.
Tian schluchzte auf, tränenlos.
Seine Füße bewegten sich fast von allein vorwärts, er sah die Umgebung nicht, durch die er ging. Er nahm eigentlich überhaupt nichts mehr wahr. Es war ihm egal, wohin sie marschierten. Und ob sie jemals dort ankommen würden.
»Was ist mit dir?«, fragte plötzlich eine Stimme neben ihm. Er zuckte zusammen. Kathy. Schon wieder. Warum hörte sie nicht auf, ihn zu verspotten?
»Geh weg, was willst du denn noch?«, krächzte er heiser.
»Mich entschuldigen. Ich war gemein zu dir, und das tut mir leid.«
Er hob den Kopf an. Schaute ihr in die Augen. Sie sahen nicht so aus, als würden sie ihn anlügen.
»Okay, Entschuldigung angenommen.« Ein trockener Husten schüttelte ihn.
Kathy bückte sich, fuhr mit der Hand durch den Sand, hob einen kleinen schwarzen Stein auf, kaum größer als ein Fingernagel, und reichte ihn Tian. Der starrte sie verständnislos an.
»Was soll das sein?«
»Schieb ihn in den Mund, das regt die Speichelproduktion an und hilft gegen den Durst. Wirklich, du kannst mir glauben.«
Er legte den Stein auf seine Zunge, begann, vorsichtig daran zu lutschen. »Danke, Kathy«, sagte er leise.
»Jetzt komm schon.«
Kathy hatte ihn wieder einmal überrascht.
Kurz darauf erreichten sie den Baum, dessen Anblick sie mit dem Versprechen auf Wasser gelockt hatte. Und tatsächlich, sie fanden einen brackigen Tümpel, auf dem eine gelbe Staubschicht lag.
»Können wir das trinken?«, fragte Mary.
Alle starrten auf das Wasser. Es war wenig und es war schmutzig.
»Haben wir eine Wahl?«, fragte León.
Niemand antwortete.
»Was, wenn es giftig ist«, sagte Mischa. »Die Farbe…«
»Ich…«, wollte León gerade ansetzen, als sich Tian auf die Knie fallen ließ und mit der hohlen Hand hastig das trübe Wasser in seinen Mund schaufelte. Kathy lag nur wenige Sekunden später neben ihm. Schließlich tranken sie alle davon.
Es schmeckte scheußlich, bitter, und es stank, aber es löschte ihren Durst. Alles andere war egal.
León war der Erste, der sich wieder aufrichtete und auf den Rücken fallen ließ. Er keuchte, weil er wie vermutlich alle zu schnell getrunken hatte. In seinem Magen rumpelte die stinkende Brühe. Dann rülpste er laut. Die anderen sahen auf und lachten. Es klang verzweifelt und erschöpft, aber sie lachten.
»Das Zeug schmeckt wie Schafscheiße«, meinte Mischa. »Aber verdammt, bin ich glücklich, dass wir den Tümpel gefunden haben.«
Neben ihm schüttete Tian noch immer das abgestandene Wasser in sich hinein. Mischa klopfte ihm auf die Schulter.
»Alter, nicht so viel auf ein Mal, sonst wird dir schlecht.«
Kaum ausgesprochen würgte Tian plötzlich, warf sich herum und erbrach sich in den Staub. Alle drehten sich angewidert von ihm weg.
»Na, wenigstens hat er nicht ins Wasser gekotzt«, sagte Kathy.
Mary schöpfte mit ihren Händen gerade Wasser aus dem Tümpel, um den Schmutz aus ihrem Gesicht zu waschen.
»Dafür haben wir nicht genug Wasser«, ermahnte León sie. »Wir müssen erst noch unsere Flaschen füllen, bevor wir weitergehen.«
»Du willst noch weiter?«, fragte
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