Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
Haare, die zu einem wippenden Pferdeschwanz gebunden waren. Ihre leuchtenden braunen Augen. Er hatte sie immer »kleine Ente« genannt, weil sie beim Gehen hin und her schaukelte, und sie hatte ihn dafür jedes Mal mit ihrer winzigen Faust in den Bauch geboxt.
Die Bilder aus der Vergangenheit waren grausam. Tian spürte, wie etwas in ihm zerbrach. Die Unkenntnis über sein früheres Leben war eine Gnade gewesen, nun verfolgten ihn Szus braune Augen auf Schritt und Tritt.
Da setzte sich Mary schweigend neben ihn, schaute mal ins Feuer, dann auf die Linien, die er, ohne es zu merken, mit einem kleinen Stock in den Staub gemalt hatte.
»Was soll das bedeuten?«, fragte sie nach einer Weile.
Tian schaute zwischen seine Füße und zuckte dann mit den Schultern. »Nichts. Ist bloß Kritzelei.«
Mary zögerte. »Was ist mit dir?«
Er lachte bitter auf. »Du meinst abgesehen davon, dass wir halb verdurstet durch die glühende Hitze marschieren, von irgendwelchen Biestern gejagt werden und auf der Suche nach Toren sind, die es vielleicht gar nicht gibt? Und selbst wenn es sie gibt, uns das auch nicht großartig weiterhilft…« Er schaute Mary müde lächelnd an.
Mir ist gerade bewusst geworden, was für ein verantwortungsloses, egoistisches Schwein ich bin.
»Okay, okay. Du hast ja recht, war ’ne doofe Frage. Ich wollte ja nur wissen, wie es dir geht.«
Er schaute in ihre großen Augen. »Tut mir leid, Mary. Ich wollte nicht gemein sein.«
»Schon okay.«
»Was ist mit dir?«
Sie seufzte. »Mein Gesicht ist von der Sonne verbrannt, von den Lippen platzt die Haut und ich bin völlig erschöpft, aber da geht es uns allen wohl ähnlich.«
»Leg dich ein bisschen hin, ich kann aufpassen, wenn du magst.«
Darin bin ich ja Weltmeister.
»Danke, das ist nett, aber ich kann jetzt nicht schlafen. Bin viel zu aufgedreht und ängstlich.«
»Kein Wunder, bei dem, was wir heute alles erlebt haben. Ich weiß auch nicht, ob ich heute Nacht schlafen kann.«
»Es ist nicht nur das«, sagte Mary leise. Es sah so aus, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. »Ich… ich sehe Bilder aus meinem richtigen Leben und diese Bilder sind nicht schön.«
Tian hob den Kopf. »Ich weiß genau, was du meinst.« Er überlegte, ob er ihr von Szu erzählen sollte, aber alles in ihm sträubte sich dagegen. Auch Mary schien es sich nach ihrer Andeutung anders überlegt zu haben. Genau wie er schwieg sie lieber, um die Geister der Vergangenheit nicht lebendig werden zu lassen.
Manchmal war es besser, Schreckliches ruhen zu lassen.
»Es ist doch seltsam«, sagte er nach einer Weile. »Wir erinnern uns kaum an unser früheres Leben. Auf jeden Fall nicht an die schönen Dinge, die es bestimmt gegeben hat. Wieso hat es ausgerechnet unsere Schuld mit uns in diese schreckliche Welt geschafft. Vielleicht ist das alles so eine Art Buße.«
»Meinst du?«
»Ich weiß es nicht. War bloß so ein Gedanke.«
Sie schwiegen. Dann erhob sich Mary ohne ein weiteres Wort und ging zu ihrem Platz hinüber.
Tian sah ihr nach.
Die Botschaft hat recht: Wir sind alle verloren, dachte er.
Jenna lag in ihren Schlafsack gewickelt auf dem Waldboden und schaute in das kleine Feuer, das Jeb entzündet hatte. Das schmerzhafte Pochen in ihrem Fuß hatte gerade wieder nachgelassen, nachdem sie erneut eine von Jebs Tabletten genommen hatte. Sie lagerten unter Bäumen, deren Wipfel weit nach oben ragten. Jeb lag auf dem Rücken neben dem Feuer, die Augen geschlossen. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Jenna vermutete, dass er schlief, aber sicher war sie sich nicht.
Sie waren den Zeichen gefolgt, aber weitere Ureinwohner hatten sie nicht getroffen. Auch wenn sie Jeb und ihr geholfen hatten, machten sie Jenna Angst. Alles hier machte ihr Angst, doch sie gab sich Mühe, ihre Unsicherheit zu verbergen. Sie wollte Jeb, so gut es ging, unterstützen – und nicht noch mehr zu einem nutzlosen Anhängsel werden, als sie ohnehin schon war.
Erst die mysteriösen Verfolger, dann auch noch diese Fremden, Jenna konnte sich keinen Reim darauf machen. Die Sprachlosigkeit dieser… Ureinwohner verunsicherte sie. Woher sollten sie wissen, dass sie sie nicht in der Nacht überfielen? Sie in einen Hinterhalt locken würden? Warum halfen sie ihnen?
Es ist wegen Jeb, fiel Jenna ein. Sie sind wie er. Die bronzefarbene Haut, die schwarzen Haare, die Form der Augen. Er könnte einer von ihnen sein. Ein Krieger.
Jeb hatte ihr von seinem Großvater erzählt und
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