Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
sich Tian noch immer keinen Zentimeter gerührt.
Jeb formte einen Trichter mit den Händen. »Tian!«
Keine Reaktion.
»Was ist los mit dir? Komm jetzt!«
Nichts.
»Er kann dich nicht hören«, meinte León.
Dann sahen sie, wie der asiatische Junge plötzlich zusammenzuckte. Sein Kopf ruckte herum und er blickte hinter sich auf den Horizont. Mischa ahnte, dass ihre Verfolger ein ganzes Stück näher gekommen sein mussten. Tian schien endlich seine Starre zu überwinden. Er blickte einmal zum Himmel, wischte sich über das Gesicht, ging auf den Abgrund zu und fasste zögerlich nach dem Seil. Einen Moment später baumelten seine Füße in der Luft, dann schwang er die Beine hoch und kletterte los.
Mischa stieß die angehaltene Luft aus.
Tian hing am Seil und hatte so große Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben. Bilder tauchten in seinem Kopf auf. Bilder, die ihn erschreckten. Seine Hände über ihm am Seil verschwammen vor seinen Augen, stattdessen sah er nun eine Landschaft aus Eis und schwarzen Ruinen. Schnee, der sich wie schmutzige Hügel aus Asche am Straßenrand türmte. Mit den Bildern drangen auch Geräusche auf ihn ein. Er hörte scharrende Schritte hinter sich, das heisere Gebell hungriger Hunde. Panik stieg in ihm auf. Nur ein Gedanke beherrschte seinen Geist – er musste hier endlich weg. Irgendwie weg.
Doch er wusste, wenn er seine zitternden Hände nur einen Moment vom Seil lösen würde, wäre es vorbei. Zusätzlich war ein starker Wind aufgekommen, der das Seil immer wieder zum Schwingen brachte. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Immer wieder trafen ihn einzelne Eisklumpen wie Nadelstiche im Gesicht. Sein Atem ging nur noch stoßweise und in seinem Kopf hämmerte ein einziger Gedanke.
Ich werde abstürzen.
Und dann für immer in dieser Welt zurückbleiben.
Der Wind spielte mit dem Seil, schwang es zuerst langsam hin und her.
Dann immer stärker.
Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Tians Hände abrutschen würden.
Jeb starrte fassungslos zu Tian hinüber, der sich nicht mehr weiterhangelte, sondern bewegungslos am Seil hing.
An seiner starren, verkrampften Körperhaltung konnte Jeb erkennen, dass Tian furchtbare Angst haben musste.
Jenna und Mary begannen zu rufen. Auch Mischa und León feuerten Tian an, schrien ihn jetzt an weiterzuklettern. Jeb brachte erst kein Wort raus, räusperte sich energisch frei und stimmte dann in ihre Rufe ein. War da nicht eine Bewegung auf der anderen Seite der Schlucht?
Alle Blicke waren gebannt auf den Asiaten gerichtet.
Dabei bemerkte niemand, wie sich Kathy aus der Gruppe löste und zu dem Felsen hinüberschlich, an dem das Seil befestigt war.
Der Hagel hörte so plötzlich auf, wie er gekommen war. Nun drangen die Rufe der anderen an Tians Ohr. Sie klangen aufgeregt, als wollten sie ihn warnen. Er schaute am Seil entlang zurück zu der verlassenen Seite der Schlucht. Und dort lauerten sie bereits auf ihn. Die schemenhaften Gestalten aus seinen düsteren Visionen nehmen das Plateau vor der Schlucht ein. Sie sahen noch grauenvoller aus als vor wenigen Sekunden in seinem Kopf: Leere Augen blickten ihn an, ihre Kleidung war zerfetzt und ihre gekrümmten Körper waren von einer Ascheschicht überzogen. Mit einem Mal erwachte Tian aus seiner Reglosigkeit.
Er begann hastig, sich vorwärtszuziehen. Wenn es etwas gab, das er noch mehr als den Abgrund fürchtete, dann war es der Gedanke, diesen Monstern in die Hände zu fallen.
Bitte nicht. Verschont mich.
Seine Hand schnellte nach vorn und packte energisch zu.
Sie würden ihn nicht kriegen. Doch plötzlich erzitterte das Seil. Dann erschlaffte es in seinen Fingern. Seine Hände griffen ins Leere.
Eben noch war er bereit gewesen, um sein Leben zu kämpfen, da wurden alle Hoffnungen jäh zerstört. Tian war so wach wie nie. Er stürzte ab. Wie in Zeitlupe sah er den Boden der Schlucht auf sich zurasen. Seine Gedanken flogen zu Szu, spielend im Sonnenschein, ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht, in ihren braunen Augen, als sie ihn entdeckte.
Gleich bin ich bei dir, dachte er. Und ich lasse dich niemals wieder allein.
Szu.
Alles war sehr schnell gegangen. Mary beobachtete, wie sich über der Schlucht durch eine Lücke Licht ausbreitete. Ein großer Schatten baute sich auf der anderen Seite der Schlucht auf. Ihr wurde bewusst, dass ihr Geist reale Bilder mit Bildern aus der Vergangenheit vermischte. Panik stieg in ihr auf. Was war das? Gerade als sie dachte, mehr Einzelheiten zu
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