Das Lachen der Hyänen: Thriller (German Edition)
stecke das Kuvert und den Schlüssel ein und stehe auf. Das Foto behalte ich in der Hand.
Er isst weiter, ohne mich anzuschauen. Ich drehe ihm den Rücken zu und bleibe stehen. Als hätte er im Rücken tatsächlich Augen, fragt er: »Ist noch was?«
»Sie wissen, wer mir damals die Drogen untergeschoben hat, oder?«
»Alte Geschichten. Ich glaube, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen, meinen Sie nicht?«
»Sie glauben, das geht?«
SIE
Sie kann sich nicht erinnern. Es ist alles weg. Für Minuten, Stunden ist alles weg, als wäre es nie da gewesen. Manchmal sogar für Tage. Dann ist die Erinnerung plötzlich zurück und löst die Gegenwart ab, für ein paar Augenblicke, als gäbe es sie gar nicht. Dann geht es ihr gut. Dann ist sie glücklich.
Jetzt fühlt sie sich leer. Überflüssig. Wie tot. Und klein, winzig klein. Wie ein Insekt. Eine Ameise. Ein Ameisenkind. Alles um sie herum wirkt monströs. Es macht ihr Angst. Das Bett, der Tisch, das Fenster, die Gitter davor. Der Teller, die Tasse; sie sieht sich selbst auf dem Boden der Tasse sitzen, zusammengekauert, nackt. Vor sich die steilen Wände aus Keramik, rutschig, ohne Halt. Sie versucht, nach oben zu klettern, rutscht immer wieder zurück. Bis sie erschöpft liegen bleibt. Sie singt, summt. Reden kann sie schon lange nicht mehr. Mit niemandem. Nur manchmal, ganz selten, mit sich selbst. Immer wenn sie den Mund aufmacht, glaubt sie zu ersticken. Sie würgt, spuckt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, die sie für immer wegzuschwemmen drohen.
Das Lied, die Melodie kommt ihr bekannt vor. Es klingt nach Kindheit, nach Softeis, nach Sandförmchen. Sie lacht. Das erste Mal seit Gott weiß nicht wie langer Zeit. Die Sandförmchen aus Plastik fangen an zu atmen. Sie bewegen sich. Sie werden zu Fleischklumpen, die wie blutige Embryonen aussehen. Mit einem Gesicht, das ihrem eigenen ähnelt. Ihre Münder bewegen sich und formen Worte, die auf ihrer Haut schmerzen wie der japanische Meerrettich in einer frischen Wunde.
»Das hast du jetzt davon!«
Sie hält sich die Ohren zu, doch die Worte bleiben. Sie werden sogar noch lauter, noch drängender. Sie windet sich auf dem Boden, strampelt. Die Münder lachen. Es hört sich an wie das Lachen von Hyänen. Sie schreit, bis sie erschöpft liegen bleibt.
Manchmal besucht sie ein Mann, den sie nicht kennt. Sie schaut ihn an und kann sein Gesicht nicht begreifen. Es sieht aus wie alle Gesichter, die der Schwestern, der Ärzte, der anderen Patienten. Er ist alle, und sie glaubt, nichts zu sein. Nichts von Belang. Sie will sich vergessen. Der Mann hält ihre Hand und redet auf sie ein. Sie versteht kein Wort. Sie hört seine Stimme, den Klang, die Melodie und erinnert sich. Sie weiß aber nicht, woran. Es fühlt sich wie Erinnerung an. Wie eine Zeit, in der sie glücklich war. Die lange her ist. Sehr lange. Die ihr im Moment so verschwommen vorkommt, als wäre sie gar nicht gewesen. Als wäre sie selbst gar nicht gewesen.
»Was ist?«, fragt die Stimme und streicht über die verschorften Wunden auf ihrem Arm.
Sie weiß es nicht.
ICH
Es ist nicht nur Mord, es ist eine Hinrichtung. Es ist widerlich. Die Fotos anzuschauen ist eine Qual. Laut Obduktion wurden dem Körper achtunddreißig kleinere und größere Messerstiche zugefügt, zum Teil waren es mehrere Zentimeter lange Verletzungen. In allen Wunden befand sich Wasabi in großen Mengen. Auch die Geschlechtsteile und der Anus wurden mit dem Messer bearbeitet und mit Wasabi eingerieben. Das Opfer wurde bestialisch zu Tode gefoltert.
Die Polizei geht davon aus, dass die Frau auf dem Foto der Überwachungskamera womöglich dafür verantwortlich ist. Die Gesichtszüge der Frau sind eindeutig asiatischer Natur. Sie hat lange schwarze Haare, einen schmächtigen Körper, trägt einen Minirock und Stöckelschuhe. Über der Schulter hängt eine Handtasche. Womöglich eine Nutte , geht es mir durch den Kopf. Aber warum sollte eine Nutte ihren Freier umbringen? So grausam ermorden?
Ich sitze auf dem Bett der kärglich eingerichteten Wohnung im zwölften Stock. Vor den offenen Fenstern ist es dunkel. Es ist eine schwüle Nacht. Die stickige Luft wabert herein. Der Fernsehturm am Alexanderplatz ist beleuchtet. Die Spitze blinkt in regelmäßigen Abständen, als wolle sie mir Botschaften übermitteln, die ich nicht verstehen kann.
Das Opfer heißt Dr. Stefan Ehrenfeld und ist fünfundfünfzig Jahre alt. Studierter Literaturwissenschaftler und Journalist. Ein bekannter
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