Das Lächeln der Frauen
schlägt sehr, sehr langsam. Ich kam
selten hierher und war jedesmal aufs neue verwundert über die Ruhe, die in
diesem Viertel herrschte.
Als
ich in die Rue Saint-Louis einbog, die Hauptstraße, an der sich kleine
Geschäfte und Restaurants friedlich aneinanderreihen, sah ich aus den
Augenwinkeln, daß eine große schlanke Gestalt in Uniform mir in gebührendem
Abstand folgte. Der Schutzengel ließ nicht locker. Was dachte sich dieser Mann
eigentlich? Daß ich es an der nächsten Brücke versuchen würde?
Ich
beschleunigte meine Schritte und rannte schon fast, und dann riß ich die Tür zu
dem nächsten Geschäft auf, in dem noch Licht brannte. Es war eine kleine
Buchhandlung, und als ich sie stolpernd betrat, wäre mir nie in den Sinn
gekommen, daß dieser Schritt mein Leben für immer verändern würde.
Im
ersten Moment dachte ich, die Buchhandlung wäre menschenleer. In Wirklichkeit
war sie nur so vollgestopft mit Büchern, Regalen und Tischchen, daß ich den
Patron, der am Ende des Raumes mit gebeugtem Kopf hinter einem altmodischen
Kassentisch stand, auf dem sich wiederum Bücher in waghalsigen Formationen
stapelten, nicht sah. Er war in einen Bildband vertieft und blätterte mit
großer Vorsicht die Seiten um. Es sah so friedlich aus, wie er da stand, mit
seinem gewellten silbergrauen Haar und der halbmondförmigen Lesebrille, daß ich
es nicht wagte, ihn zu stören. Ich blieb stehen in diesem Kokon aus Wärme und
gelblichem Licht, und mein Herz begann ruhiger zu schlagen. Vorsichtig
riskierte ich einen Blick nach draußen. Vor dem Schaufenster, auf dem in
verblaßten Goldbuchstaben der Schriftzug Librairie Capricorne Pascal Fermier geschrieben war, sah ich meinen Schutzengel stehen und angelegentlich die
Auslagen betrachten.
Unwillkürlich
seufzte ich, und der alte Buchhändler blickte von seinem Buch auf und sah mich
überrascht an, bevor er seine Lesebrille nach oben schob.
»Ah ... bonsoir, Mademoiselle - ich habe Sie gar nicht kommen hören«, sagte
er freundlich, und sein gütiges Gesicht mit den klugen Augen und dem feinen
Lächeln erinnerte mich an ein Photo von Marc Chagall in seinem Atelier. Nur daß
dieser Mann hier keinen Pinsel in seiner Hand hielt.
»Bonsoir,
Monsieur«, antwortete ich einigermaßen verlegen. »Verzeihen Sie, ich wollte
Sie nicht erschrecken.«
»Aber
nein«, erwiderte er und hob die Hände. »Ich hatte nur gedacht, ich hätte eben
abgeschlossen.« Er sah zur Tür, in dessen Schloß ein Bund mit mehreren Schlüsseln
steckte, und schüttelte den Kopf. »Ich werde allmählich vergeßlich.«
»Dann
haben Sie eigentlich schon geschlossen?« fragte ich, trat einen Schritt vor und
hoffte, daß der lästige Schutzengel vor dem Schaufenster endlich weiterflog.
»Schauen
Sie sich in Ruhe um, Mademoiselle. Soviel Zeit muß sein.« Er lächelte. »Suchen
Sie etwas Bestimmtes?«
Ich
suche einen Menschen, der mich wirklich liebt, antwortete ich stumm. Ich bin
auf der Flucht vor einem Polizisten, der denkt, daß ich von einer Brücke
springen will, und tue so, als wollte ich ein Buch kaufen. Ich bin
zweiunddreißig Jahre alt und habe meinen Regenschirm verloren. Ich wünsche mir,
daß endlich mal was Schönes passiert.
Mein
Magen knurrte vernehmlich. »Nein ... nein, nichts Bestimmtes«, sagte ich rasch.
»Irgend etwas ... Nettes.« Ich wurde rot. Nun hielt er mich wahrscheinlich für
eine Ignorantin, deren Ausdrucksfähigkeit sich in dem nichtssagenden Wort
»nett« erschöpfte. Ich hoffte, daß meine Worte wenigstens meinen knurrenden
Magen übertönt hatten.
»Möchten
Sie einen Keks?« fragte Monsieur Chagall.
Er
hielt mir eine Silberschale mit Buttergebäck unter die Nase, und nach einem
kurzen Moment des Zögerns griff ich dankbar zu. Das süße Gebäck hatte etwas
Tröstliches und beruhigte meinen Magen sofort.
»Wissen
Sie, ich bin heute noch gar nicht richtig zum Essen gekommen«, erklärte ich
kauend. Dummerweise gehöre ich zu den uncoolen Leuten, die sich verpflichtet fühlen,
immer alles erklären zu müssen.
»Das
passiert«, sagte Monsieur Chagall, ohne meine Verlegenheit weiter zu
kommentieren. »Da drüben«, er zeigte auf einen Tisch mit Romanen, »finden Sie
vielleicht, was Sie suchen.«
Und
das tat ich dann wirklich. Eine Viertelstunde später verließ ich die Librairie
Capricorne mit einer orangefarbenen Papiertüte, auf der ein kleines weißes
Einhorn gedruckt war.
»Eine
gute Wahl«, hatte Monsieur Chagall gesagt, als er das Buch verpackte, das
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