Das Lächeln der Frauen
November, in dem
der Himmel über Paris weiß wie Milch war und die Menschen mit dicken Wollschals
durch die Straßen hasteten. Ein November, der so viel kälter war als alle
anderen, die ich in Paris erlebt hatte. Oder kam mir das nur so vor?
Wenige
Wochen zuvor war mein Vater gestorben. Einfach so, ohne Vorwarnung, hatte sein
Herz eines Tages beschlossen, nicht mehr zu schlagen. Jacquie fand ihn, als er
nachmittags das Restaurant aufschloß.
Papa
lag friedlich auf dem Fußboden - umgeben von frischen Gemüsen, Lammkeulen,
Jakobsmuscheln und Kräutern, die er morgens auf dem Markt gekauft hatte.
Er
hinterließ mir sein Restaurant, das Rezept für sein berühmtes Menu d'amour mit
dem er angeblich vor vielen Jahren die Liebe meiner Mutter gewonnen hatte (sie
starb, als ich noch sehr klein war, deswegen werde ich nie wissen, ob er nicht
doch geschwindelt hat), und einige kluge Sätze über das Leben. Er war
achtundsechzig Jahre alt, und ich fand das viel zu früh. Aber Menschen, die man
liebt, sterben immer zu früh, nicht wahr, egal, wie alt sie werden.
»Die
Jahre bedeuten nichts. Nur was in ihnen geschieht«, hatte mein Vater einmal
gesagt, als er Rosen auf das Grab meiner Mutter legte.
Und
als ich im Herbst etwas verzagt, aber doch entschlossen in seine Fußstapfen
trat, traf mich die Erkenntnis, daß ich nun ziemlich allein auf der Welt war,
mit voller Wucht.
Gott
sei Dank hatte ich Claude. Er arbeitete als Bühnenbildner am Theater, und der
riesige Schreibtisch, der in seiner kleinen Atelierwohnung im Bastilleviertel
unter dem Fenster stand, quoll stets über von Zeichnungen und kleinen Modellen
aus Karton. Wenn er einen größeren Auftrag hatte, tauchte er manchmal für ein
paar Tage ab. »Ich bin nächste Woche nicht vorhanden«, sagte er dann, und ich
mußte mich erst daran gewöhnen, daß er tatsächlich weder ans Telefon ging noch
die Tür öffnete, obwohl ich Sturm klingelte. Kurze Zeit später war er wieder
da, als wäre nichts gewesen. Er schien am Himmel auf wie ein Regenbogen, nicht
zu fassen und wunderschön, küßte mich übermütig auf den Mund, nannte mich
»meine Kleine«, und die Sonne spielte in seinen goldblonden Locken Versteck.
Dann
nahm er mich an der Hand, zog mich mit sich fort und präsentierte mir mit
flackerndem Blick seine Entwürfe.
Sagen
durfte man nichts.
Als
ich Claude erst einige Monate kannte, hatte ich einmal den Fehler begangen,
meine Meinung unbefangen zu äußern, und mit schiefgelegtem Kopf laut überlegt,
was man noch verbessern könnte. Claude hatte mich fassungslos angestarrt, seine
wasserblauen Augen schienen fast überzulaufen, und mit einer einzigen heftigen
Handbewegung hatte er seinen Schreibtisch leergefegt. Farben, Stifte, Blätter,
Gläser, Pinsel und kleine Kartonstücke wirbelten durch die Luft wie Konfetti,
und das filigrane, in sorgsamer Arbeit gefertigte Bühnenmodell für Shakespeares Sommernachtstraum zerbrach in tausend Stücke.
Seither
hielt ich mich mit kritischen Bemerkungen zurück.
Claude
war sehr impulsiv, sehr wechselhaft in seinen Stimmungen, sehr zärtlich und
sehr besonders. Alles an ihm war »sehr«, ein wohltemperiertes Mittelmaß schien
es nicht zu geben.
Wir
waren damals ungefähr zwei Jahre zusammen, und es wäre mir nie in den Sinn
gekommen, die Beziehung zu diesem komplizierten und höchst eigenwilligen
Menschen infrage zu stellen. Wenn man genau hinsieht, hat doch jeder von uns
seine Kompliziertheiten, seine Empfindlichkeiten und Spleens. Es gibt Dinge,
die wir tun, oder Dinge, die wir niemals tun würden, oder nur unter ganz
bestimmten Umständen. Dinge, über die andere lachen, den Kopf schütteln, sich
wundern.
Merkwürdige
Dinge, die nur zu uns gehören.
Ich
zum Beispiel sammle Gedanken. In meinem Schlafzimmer gibt es eine Wand mit
bunten Zetteln voller Gedanken, die ich festgehalten habe, damit sie mir in
ihrer Flüchtigkeit nicht verlorengehen. Gedanken überbelauschte Gespräche im Café,
über Rituale und warum sie so wichtig sind, Gedanken über Küsse im Park bei
Nacht, über das Herz und über Hotelzimmer, über Hände, Gartenbänke, Photos,
über Geheimnisse und wann man sie preisgibt, über das Licht in den Bäumen, und
über die Zeit, wenn sie stillsteht.
Meine
kleinen Notizen haften an der hellen Tapete wie tropische Schmetterlinge,
eingefangene Momente, die keinem Zweck dienen außer dem, in meiner Nähe zu bleiben,
und wenn ich die Balkontür öffne und ein leichter Luftzug durch das Zimmer
streicht,
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