Das Lächeln der Sterne
nicht, wie der junge Mann die Schaufel wegwarf. Er sah auch nicht, wie im Haus die Gardine im Wohnzimmer wieder herabfiel. Und er sah nicht, wie sich die Haustür öffnete und eine faltige Hand den Zettel aufhob, der auf die Veranda gefallen war.
Kurz darauf erzählte Paul Adrienne, was sich zugetragen hatte, und sie hörte ihm aufmerksam zu. Sie waren in der Küche. Paul lehnte an der Theke und hatte die Arme verschränkt. Er wirkte um einiges erschöpfter als am Morgen und sah, während er sprach, mit leerem Blick aus dem Fenster. Als er mit seinem Bericht fertig war, stand in Adriennes Miene eine Mischung aus Mitleid und Sorge.
»Wenigstens haben Sie es versucht«, sagte sie.
»Viel genutzt hat es nicht, oder?«
»Vielleicht wusste er nicht, dass sein Vater den Brief geschrieben hatte.«
Paul schüttelte den Kopf.
»Darum geht es nicht allein. Es hat mit dem Grund zu tun, warum ich überhaupt hergekommen bin. Ich hatte die Hoffnung, etwas in Ordnung bringen oder es wenigstens verständlich machen zu können, aber jetzt bekomme ich nicht einmal die Gelegenheit dazu.«
»Das ist aber nicht Ihr Versäumnis.«
»Warum fühlt es sich dann so an?«
In der folgenden Stille konnte Adrienne das Ticken der Heizung hören.
»Weil es Ihnen etwas ausmacht. Weil Sie sich verändert haben.«
»Nichts hat sich verändert. Die beiden glauben immer noch, dass ich den Tod der Frau verschuldet habe.« Paul seufzte.
»Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt, wenn jemand so etwas von einem glaubt?«
»Nein«, gestand sie, »das kann ich nicht. Ich war noch nie in einer solchen Lage.«
Paul nickte. Er sah mitgenommen aus.
Adrienne sah ihn an – in der Erwartung, dass sein Gesichtsausdruck sich langsam wieder normalisieren würde.
Als dies jedoch nicht geschah, trat sie zu ihrer eigenen Überraschung näher zu Paul und nahm seine Hand. Erst waren seine Finger steif, doch dann entspannten sie sich und legten sich um ihre Hand.
»So schwer es auch zu akzeptieren ist und ganz gleich, was man sagen kann«, begann Adrienne vorsichtig, »Sie müssen verstehen, dass Sie wahrscheinlich keinen Einfluss auf die Sichtweise des jungen Mannes gehabt hätten, auch wenn Sie heute Morgen mit seinem Vater gesprochen hätten. Er trauert um seine Mutter, und es ist leichter, jemandem wie Ihnen die Schuld zu geben als zu akzeptieren, dass das Leben der Mutter einfach zu Ende war. Ihr Versuch ist vielleicht gescheitert, aber Sie haben trotzdem etwas Wichtiges getan, indem Sie heute Morgen dort hingegangen sind.«
»Was denn?«
»Sie haben dem Sohn zugehört. Er hat zwar Unrecht, aber Sie haben ihm die Gelegenheit gegeben zu sagen, was er fühlt. Sie haben ihm die Möglichkeit gegeben, seine Gefühle auszudrücken, und vielleicht ist es genau das, was der Vater sich die ganze Zeit wünscht. Er weiß ja, dass der Fall nicht vor Gericht kommen wird, und wollte vielleicht, dass Sie die Geschichte aus seiner Perspektive hören. Damit Sie wissen, wie er sich fühlt.«
Paul lachte grimmig. »Jetzt fühle ich mich aber entschieden besser.«
Adrienne drückte seine Hand.
»Was hatten Sie erwartet? Dass Vater und Sohn sich Ihre Version anhören und Ihnen nach einer Weile zustimmen? Nachdem sie sich einen Anwalt genommen und die Klage vorangetrieben haben, obwohl sie wussten, dass sie keine Chance hatten? Und zwar nachdem sie mit anhören mussten, was andere Ärzte dazu zu sagen hatten? Die beiden wollten, dass Sie herkommen und sich ihre Version anhören, nicht anders herum.«
Paul sagte nichts, aber er wusste in seinem Inneren, das Adrienne Recht hatte. Warum war ihm das nicht früher in den Sinn gekommen?
»Ich weiß, dass es nicht leicht ist, sich dies anzuhören« , sprach sie weiter, »und ich weiß, dass die Familie Unrecht hat und dass es nicht fair ist, Ihnen die Schuld zu geben. Aber Sie haben Vater und Sohn heute etwas Wichtiges gegeben, und zwar aus freien Stücken. Darauf können Sie stolz sein.«
»Es überrascht Sie nicht, dass die ganze Geschichte so verlaufen ist, stimmt’s?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Wussten Sie das heute Morgen schon? Als ich Ihnen davon erzählte?«
»Ich wusste es nicht mit Sicherheit, aber ich hatte eine Ahnung, dass es so laufen könnte.«
Ein kleines Lächeln huschte über Pauls Gesicht. »Sie sind erstaunlich, wissen Sie das?«
»Ist das gut oder schlecht?«
Er drückte ihre Hand und stellte fest, wie gut sie in seine passte. Sie fühlte sich so natürlich an, als würde er sie
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