Das Lächeln der Sterne
aber er war überzeugt gewesen, dass Paul Flanner dem Brief keine Beachtung schenken würde. Flanner war ein einflussreicher Arzt, er wurde von Anwälten mit bunten Krawatten und breiten Gürteln vertreten, und niemand schien sich im letzten Jahr auch nur im Mindesten um ihn, Robert Torrelson, oder um seine Familie gekümmert zu haben. So waren sie eben, die reichen Leute in der Stadt. Er für seinen Teil war froh, dass er sein Leben lang nichts mit Menschen zu tun gehabt hatte, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, dass sie Papiere hin und herschoben, und die sich nur wohl fühlten, wenn die Temperatur exakt zweiundsiebzig Grad Fahrenheit betrug. Er gab sich nicht gern mit Menschen ab, die sich für etwas Besseres hielten, nur weil sie eine bessere Schulbildung hatten oder mehr Geld und ein größeres Haus. Als er nach der Operation mit Paul Flanner gesprochen hatte, war er ihm wie einer von denen vorgekommen. Er wirkte steif und unnahbar, und als er das Geschehen erklärte, tat er es mit knappen, präzisen Worten, sodass Robert den Eindruck gewann, Flanner würde wegen dieser Angelegenheit keine Minute Schlaf verlieren.
Und das war nicht recht.
Roberts Leben war von anderen Werten bestimmt, von Werten, die sein Vater und sein Großvater und auch schon dessen Großvater davor in Ehren gehalten hatten. Er konnte seinen Stammbaum auf den Outer Banks fast zweihundert Jahre zurückverfolgen. Über Generationen hatten sie in den Gewässern des Pamlico Sound gefischt, zu einer Zeit, als das Gebiet noch ungeheuer fischreich war, sodass ein Mann, wenn er sein Netz auswarf, so viele Fische darin fing, dass er den Bug seines Bootes füllen konnte. Doch all das war jetzt anders. Jetzt gab es Quoten und Regeln und Genehmigungen und große Gesellschaften, und alle stürzten sich auf die wenigen Fische, die es in den Gewässern noch gab. Wenn Robert heute mit dem Boot hinausfuhr, schätzte er sich häufig schon glücklich, wenn er so viel fing, dass er von dem Erlös das Benzin bezahlen konnte, das er gebraucht hatte.
Robert Torrelson war siebenundsechzig Jahre alt, sah aber zehn Jahre älter aus. Sein fleckiges Gesicht war wettergegerbt und sein Körper gebeugt. Er hatte eine lange Narbe auf der linken Gesichtshälfte, die vom Auge bis zum Ohr verlief. In den Händen litt er unter schmerzhafter Arthritis, und an seiner rechten Hand fehlte seit vielen Jahren der Ringfinger, der ihm beim Netzeinholen in einer Winde abgerissen worden war.
Jill hatte daran keinen Anstoß genommen. Doch jetzt war sie nicht mehr da.
Auf dem Schreibtisch stand ein Bild von ihr, und Robert sah es immer wieder lange an, wenn er allein im Zimmer war. Er vermisste so vieles, was mit ihr zu tun hatte: wie sie ihm die Schultern massiert hatte, wenn er an einem kalten Winterabend zurück ins Haus kam, wie sie zusammen auf der hinteren Veranda gesessen und Musik aus dem Radio gehört hatten. Wie sie gerochen hatte, wenn sie sich Deodorantpuder auf die Brust gestäubt hatte – ein klarer, sauberer Duft, frisch wie bei einem Neugeborenen.
Paul Flanner hatte ihm all das genommen. Jill wäre noch am Leben, daran zweifelte er nicht, wenn sie an jenem Tag nicht ins Krankenhaus gegangen wäre.
Sein Sohn hatte dem Arzt seine Meinung gesagt. Nun war er an der Reihe.
Adrienne bog auf den kleinen Kiesplatz vor dem Supermarkt ein. Das Geschäft war noch geöffnet, stellte sie mit einem erleichterten Aufatmen fest.
Drei Autos waren kreuz und quer auf dem Platz geparkt, und auf jedem lag eine dünne Salzschicht. Ein paar ältere Männer mit Baseball-Mützen standen vor dem Gebäude, rauchten und tranken Kaffee. Als Adrienne aus dem Auto stieg, sahen sie zu ihr herüber und unterbrachen ihre Unterhaltung. Sie ging an ihnen vorbei in den Laden, und die Männer nickten ihr zur Begrüßung zu.
Das Geschäft war typisch für Supermärkte in ländlichen Gegenden: ein blank gescheuerter Holzfußboden, Deckenventilatoren, und die Regale voll gestopft mit den verschiedensten Artikeln. Neben der Kasse stand ein kleines Fass mit Dillgurken, daneben ein anderes mit gerösteten Erdnüssen. Weiter hinten befand sich eine Theke, an der frisch gegrillte Burger und Fischbrötchen verkauft wurden, und der Geruch von Gebratenem hing in der Luft. Die Eismaschine stand in einer Ecke neben den Kühlfächern mit Bier und anderen Getränken, und Adrienne ging darauf zu. Als sie die Hand auf den Türgriff an der Eismaschine legte, sah sie sich plötzlich in der verspiegelten
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