Das Lächeln der Sterne
die Menschen so unterschiedlich gar nicht waren. Ob jung oder alt, männlich oder weiblich, fast jeder, den sie kannte, wollte mehr oder weniger das Gleiche vom Leben: Alle wollten Frieden in ihrem Herzen, sie wollten ein Leben ohne große Turbulenzen, sie wollten glücklich sein. Der Unterschied lag darin, dachte Adrienne, dass die meisten jungen Menschen glaubten, dieser Zustand sei in der Zukunft zu erreichen, während die meisten älteren Menschen ihn in der Vergangenheit sahen.
Das traf auch auf sie selbst zu, wenigstens teilweise. Doch so schön die Vergangenheit auch gewesen war, Adrienne weigerte sich dennoch, sich darin derart zu verlieren, wie sie es bei manchen ihrer Freundinnen beobachtet hatte. Die Vergangenheit war nicht nur ein Garten voller Rosen und Sonnenschein, die Vergangenheit hatte auch ihren Anteil am Herzenskummer. Das hatte sie nach ihrem Leben mit Jack in dem Moment empfunden, als sie damals in der Pension angekommen war, und das empfand sie jetzt, wenn sie an Paul Flanner dachte.
Vielleicht würde sie es sich später, wenn sie allein war, gestatten, zu weinen.
Doch seit sie damals aus Rodanthe zurückgekommen war, hatte sie sich jeden Tag aufs Neue vorgenommen, trotz allem weiterzumachen, und daran würde sie sich auch heute halten. Sie war keine, die sich unterkriegen ließ, das hatte ihr Vater immer wieder gesagt, und diese Erkenntnis gab ihr eine gewisse Befriedigung, obwohl sie andererseits nichts von dem Schmerz oder der Trauer fortnahm.
In ihrem jetzigen Leben versuchte sie sich auf die Dinge zu konzentrieren, die ihr Freude machten. Sie war gern mit ihren Enkelkindern zusammen, die gerade die Welt entdeckten, sie besuchte gern ihre Freunde und hielt sich auf dem Laufenden über das, was in deren Leben geschah. Und selbst ihre Arbeit in der Bibliothek machte ihr Freude.
Es war keine anstrengende Arbeit – ihr Bereich war die Präsenzabteilung, in der die Bücher nicht ausgeliehen werden durften. Manchmal vergingen mehrere Stunden, ohne dass ihre Hilfe in Anspruch genommen wurde, sodass sie Muße hatte, all die Menschen zu beobachten, die das Gebäude durch die Glastür betraten. Wenn die Besucher im Lesesaal über den Büchern saßen, dachte sich Adrienne immer Geschichten über deren Leben aus. Sie versuchte zu erraten, ob sie verheiratet waren und welchen Beruf sie hatten oder welche Themen sie interessieren könnten, und manchmal ergab sich die Gelegenheit, diese Vermutungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Hin und wieder kam einer der Besucher zu ihrem Tisch und fragte sie nach einem Buch, und daraus ergab sich dann ein nettes Gespräch. Meistens lag Adrienne ziemlich nah bei der Wahrheit mit ihren Mutmaßungen und wunderte sich dann, dass sie so gut geraten hatte.
Manchmal interessierte sich ein männlicher Besucher auch für sie persönlich. Vor Jahren waren diese Männer in der Regel älter gewesen als sie selbst, jetzt waren sie eher jünger, aber der Ablauf war immer derselbe: Der Mann, dessen Neugier sie geweckt hatte, verbrachte plötzlich viel Zeit in der Präsenzbibliothek und stellte dauernd Fragen – erst über Bücher, dann über allgemeine Themen und schließlich über sie selbst. Adrienne beantwortete diese Fragen bereitwillig, ohne jedoch irgendwelche Hoffnungen zu wecken, und trotzdem wurde sie meistens irgendwann eingeladen. Wenn das geschah, fühlte sie sich immer ein wenig geschmeichelt, aber im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass sie sich nie mehr einem anderen so würde öffnen können, wie sie es einst getan hatte – da mochte der Verehrer noch so interessant sein und seine Gesellschaft noch so bezaubernd.
Die Erlebnisse in Rodanthe hatten sie auch in anderer Hinsicht verändert, denn die Tage mit Paul hatten dazu beigetragen, dass Adrienne die Kränkung, die ihr durch Jack und die Scheidung zugefügt worden war, überwand. An ihre Stelle war etwas anderes getreten – Stärke und Stolz. Weil sie erfahren hatte, dass sie der Liebe wert war, fand sie die Kraft, den Kopf hoch zu tragen. Ihr neu erstarktes Selbstbewusstsein machte es ihr möglich, mit Jack sprechen, ohne versteckte Anspielungen einfließen oder Anschuldigungen und Trauer in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. Das war ihr vorher nie gelungen. Es geschah ganz allmählich: wenn er anrief, um mit den Kindern zu sprechen, plauderten sie erst ein paar Minuten miteinander, bevor sie den Hörer weitergab. Nach einer Weile fragte sie ihn nach Linda oder nach seiner Arbeit, oder sie
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