Das Lächeln des Cicero
»Dann kann er mir auch gleich
erklären, wieviel er schon von der Wahrheit wußte, als er
mich engagiert hat. Aber inzwischen sehe ich wenig Grund zu
glauben, daß Sextus Roscius’ Sturz ein Selbstmord war,
bis ich die Beweise nicht mit eigenen Augen gesehen
habe.«
Rufus zuckte die
Schultern. »Wie ließe es sich sonst erklären? Es sei
denn, es war schlicht ein Unfall - der Balkon ist tückisch,
und er hat den ganzen Abend getrunken; er könnte also durchaus
ausgerutscht und gestürzt sein. Außerdem gibt es im Haus
keinen, der seinen Tod wünscht.«
»Vielleicht
nicht.« Ich wechselte einen vestohlenen Blick mit Tiro. Wie
hätte einer von uns die Verbitterung und Verzweiflung von
Roscia Majora vergessen können? Der Freispruch ihres Vaters
hatte all ihre Hoffnung auf Rache und Schutz für ihre geliebte
Schwester zunichte gemacht. Ich räusperte mich und rieb mir
die müden Augen. »Sei so nett und begleite mich
zurück zu Caecilias Haus, Rufus, und zeig mir, wo und wie
Roscius gestorben ist.«
»Heute nacht
noch?« Er sah müde aus und verwirrt und wie ein junger
Mann, der am frühen Abend schon zuviel Wein getrunken
hatte.
»Morgen ist es
vielleicht zu spät. Caecilias Sklaven könnten wichtige
Beweise zerstören.«
Rufus willigte mit
einem müden Nicken ein.
»Und Tiro«,
sagte ich, ein Flehen in seinen Augen erhörend. »Kann er
auch mitkommen, Cicero?«
»Mitten in der
Nacht?« Cicero verzog mißbilligend die Lippen. »Oh,
also meinetwegen, soll er ruhig.«
»Du bist
natürlich auch eingeladen.«
Cicero schüttelte
den Kopf. Er sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung
an. »Das Spiel ist aus, Gordianus. Für alle Menschen mit
einem reinen Gewissen wird es langsam Zeit, sich ihre wohlverdiente
Ruhe zu gönnen. Sextus Roscius ist tot, und was noch? Er ist
aus freien Stücken gestorben;
Sulla-vor-dem-es-keine-Geheimnisse-gibt persönlich hat es
gesagt. Gib es auf, Gordianus. Folge meinem Beispiel und gehe ins
Bett. Der Prozeß ist beendet, der Fall ist abgeschlossen. Aus
und vorbei, mein Freund.«
»Vielleicht,
Cicero«, sagte ich, ging in die Halle und machte Rufus und
Tiro ein Zeichen, mir zu folgen. »Vielleicht aber auch
nicht.«
»Hier muß es
gewesen sein, genau an dieser Stelle«, flüsterte
Rufus.
Der Vollmond schien
hell auf die Platten des Balkons und die kniehohe steinerne
Brüstung. Ich blickte über den Rand und entdeckte gut
zehn Meter unter uns die Treppe, von der Rufus gesprochen hatte;
die glatten, abgetretenen Kanten der Stufen glänzten matt im
Mondlicht. Die Treppe wand sich weiter nach unten in die
Dunkelheit, gesäumt von hochgewachsenen Wildkräutern, nur
hier und da vom Ast einer Eiche oder Weide verdeckt. Aus dem Innern
des Hauses erfüllte Klagegeschrei die warme Abendluft; die
Leiche von Sextus Roscius war im Heiligtum von Caecilias
Göttin aufgebahrt worden, und ihre Sklavinnen hatten das
zeremonielle Klagen und Schreien angestimmt.
»Die
Brüstung sieht jämmerlich niedrig aus«, sagte Tiro
und trat aus sicherer Entfernung gegen eine der gedrungenen
Säulen. »Kaum hoch genug, um ein Kind auf dem Balkon zu
schützen.« Er wich schaudernd zurück.
»Ja«,
pflichtete ihm Rufus bei. »Das habe ich Caecilia
gegenüber auch schon angemerkt. Offenbar gab es früher
einmal ein zusätzliches Holzgeländer. Man kann die
eisernen Einfassungen an manchen Stellen noch sehen. Aber das Holz
ist morsch und brüchig geworden, und irgend jemand hat das
Geländer abreißen lassen. Caecilia sagt, sie wollte schon
lange ein neues bauen lassen, ist aber bis jetzt noch nicht dazu
gekommen. Der hintere Flügel ist bis zur Ankunft von Sextus
und seiner Familie lange nicht benutzt worden.« Er trat neben
mich und blickte vorsichtig über den Rand. »Die Treppe
dort unten ist steiler, als sie von oben aussieht. Sehr steil und
eng, rutschig und hart. Sie hinabzusteigen ist schon an sich
gefährlich; für einen Mann, der gestürzt oder
gestolpert ist...« Er schüttelte sich. »Er ist noch
den halben Hügel hinabgerollt, bevor sein Körper zum
Liegen kam. Da, man kann die Stelle von hier aus durch die
Lücke zwischen den Zweigen sehen, wo die Treppe eine scharfe
Biegung macht. Man kann sie genau erkennen - da vorne, wo sich der
Mond in der Blutlache spiegelt wie in schwarzem
Öl.«
»Wer hat ihn
gefunden?« fragte ich.
»Ich. Das
heißt, ich war der erste, der schließlich nach unten
gegangen ist, um seine Leiche umzudrehen.«
»Und wie kam
das?«
»Ich hatte den
Schrei
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