Das Lächeln des Leguans
und machte mich auf gen Süden.
Sobald die Küste außer Sicht war, stoppte ich den Motor. Und als das Boot zum Stillstand kam, erleichterte ich Luc von seiner
Schwere. Während er über Bord glitt, legte sich das Himmelszelt in der Tiefe des dunklen Spiegels in Falten, doch sank er
nicht sogleich hinunter. Auf einmal hatte er es mit dem Tauchen nicht mehr so eilig. Er trieb einen Moment lang auf dem Wasser
und verharrte an der Grenze beider Welten, dann verschwand er ganz langsam in den Fluten, kopfüber, wie zum Gedenken an die
Titanic
. Ich hielt eine wasserdichte Taschenlampe ins Wasser, um seinen trägen Fall eines welken Blattes zu verfolgen. Er entfernte
sich taumelnd wie in einem irisierenden Öl, in dem sich lauter Formen bewegen. Die Sonne der Tropen würde seine Knochen nun
doch nicht bleichen. Sie würden vielmehr die Untiefen des Meeres schmücken, den Unterschlupf einer Muräne zieren, und das
war gut so. Es schien angemessen, dass Luc seinen Wunsch, eins mit dem Ozean zu werden, am Ende doch noch wahrmachen und zu
seiner so schmerzlich vermissten Mutter gelangen konnte. Schließlich wurde er von der Finsternis verschluckt. Ich schaltete
meine Lampe aus, blieb aber noch eine ganze Weile über die Wellen gebeugt. Vielleicht hoffte ich ja, ein anderes Licht zu
erhaschen, das der Wogen ureigenstes Geheimnis durchdrungen hätte, einLeuchten, das aus der Tiefe erstrahlte, um meinen Freund willkommen zu heißen. Es war jedoch nichts zu sehen. Das Wunder würde
ausbleiben.
Und doch … Als ich später ein letztes Mal in der Grotte schlief, träumte ich von Luc. Ich sah ihn in den Fluten versinken, während
unzählige Sandaale ihn hinabbegleiteten und sich von ihm nährten. Wie freundliche Piranhas knabberten sie an ihm und fraßen
sein Fleisch, meißelten es mit ihren winzigen Zähnen. Sie schufen seinen Körper neu, verliehen ihm eine neue, reine, schlanke
Gestalt. Ich vernahm einen harmonischen Gesang, einen leisen, durchdringenden Chor, und sah plötzlich aus der Tiefe des Meeres
jenes Leuchten aufsteigen. Denn ein unterseeischer Komet traf ein, begleitet von Walen, Kraken und angeschirrten Haien, auf
denen die Bewohner der »Großen Medusa« ritten und sangen.
Freut euch, ihr »Leichten« und Sirenen. Ja, singt im Meer, ihr aus der Tiefe Kommenden, denn hier ist Fngl Mgl’Nf. Jubelt
ihm zu, Tritonen, singt ihm ein Loblied und lasst die Tritonenhörner erschallen, denn der Prinz der »Stadt der Ranken« ist
endlich zurückgekehrt.
Informationen zum Buch
An der windumtosten Küste des St.-Lawrence-Golfes im Osten Kanadas schließen zwei elfjährige Jungen Freundschaft. Dass sie
sich am Strand treffen, ist kein Zufall: Seit Lucs Mutter eines Tages vom Baden nicht mehr nach Hause kam, zieht es Luc immer
wieder ans Meer. Dort kann er in ihrer Nähe sein. Seinen neuen Freund weiht er schon bald in sein großes Geheimnis ein: In
einer Grotte an der Steilküste hält er einen Leguan verborgen, dem er magische Kräfte zuspricht. Tatsächlich geschehen bald
Dinge, die mit dem Verstand allein nicht zu erklären sind. Kann es einen überzeugenderen Beweis für die Macht des Leguans
geben? Immer tiefer tauchen die beiden in ihre eigene Welt ein, bis Luc sich darin zu verlieren droht und die Loyalität seines
Freundes auf eine harte Probe stellt.
Suggestiv und anrührend erzählt Denis Thériault vom Schmerz des Verlusts, der Sehnsucht nach Geborgenheit und dem, was echte
Freundschaft vermag.
Informationen zum Autor
Denis Thériault
wurde 1959 in Sept-Îles an der Nordküste des St.-Lawrence-Golfes in Kanada geboren. Er studierte Psychologie in Ottawa und
arbeitete als Schauspieler, Conférencier und Regisseur am Theater, bevor er erfolgreich als Drehbuchautor tätig wurde und
zu schreiben begann. Bei dtv erschien bereits der Bestseller ›Siebzehn Silben Ewigkeit‹, der 2006 mit dem Prix littéraire Canada-Japon ausgezeichnet wurde.
Denis Thériault lebt in Montreal.
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