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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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oft unzusammenhängend und absurd, was ich auf ihre innere Unordnung zurückführte, Lucile hatte schon immer ohne erkennbare Logik neue Themen angesprochen und Gespräche überstürzt beendet, ich dachte also, sie habe das Wesentliche gesagt.
     
    Lucile hat mich an jenem Freitagmorgen angerufen, es war das letzte Mal, und sie wusste es.
     
    Während des Wochenendes dachte ich nicht an sie, ich weiß übrigens nicht mehr so genau, was ich getan habe, diese Tage haben sich meinem Gedächtnis entzogen wie eine unnütze, müßige Zeit, eine unbedachte Zeit. Auch am Montag rief ich nicht an, ich arbeitete an dem Roman, den ich für jemand anderen umschrieb.
     
    Am Dienstag rief ich gegen vierzehn Uhr bei Lucile an und hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Abends, zur Essenszeit, rief ich noch einmal an, sie war immer noch nicht da, ich versuchte es auf ihrem Handy, sie meldete sich nicht. Später rief ich Manon an, Lucile schlief manchmal bei Manon, wenn sie deren Töchter hütete. Doch dieses Mal nicht. Auch Manon hatte nichts von ihr gehört, sie hatte, genau wie ich, am Freitag mit ihr telefoniert, Lucile hatte ihr gesagt, dass sie über das Wochenende weg sein wollte. Seither nichts. Lucile hatte die Gewohnheit, uns über ihr Kommen und Gehen auf dem Laufenden zu halten, vermutlich, um uns zu beruhigen oder um ihren eigenen Weg zu markieren. Im Verlauf des Abends versuchte ich sie mehrmals anzurufen, ich dachte mir verschiedene Erklärungen für diese Funkstille aus, doch keine stellte mich zufrieden. Am nächsten Morgen um halb sieben rief Manon an, sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sie hatte sie stündlich anzurufen versucht, die Anrufe, sowohl auf dem Festnetz als auch auf dem Handy, waren immer ins Leere gegangen, es sei etwas los, da sei sie sicher, wir müssten hin.
     
    Es war ein Mittwochmorgen, ich duschte und zog mich an, ließ meinen Sohn vor dem Fernseher sitzen und sagte ihm, Großmutter Lucile melde sich nicht am Telefon, ich würde rasch hinfahren, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Da ich während ihrer Abwesenheiten für das Blumengießen zuständig war, hatte ich Luciles Schlüssel schon lange.
    In der Metro dachte ich, wie früh es war und dass ich allein war, genau das sagte ich mir: Deine Mutter geht nicht ans Telefon, und du fährst allein hin. Ich dachte, Lucile habe einen Rückfall gehabt, ich würde sie vorfinden, wie meine Schwester sie einige Jahre zuvor vorgefunden hatte, in einem Zustand äußerster Erregung, ich müsste sie dann dazu überreden, ins Krankenhaus zu gehen, sie würde vielleicht Widerstand leisten, und dann müsste die Feuerwehr kommen. Ich dachte, dass das Erwachsensein nicht gegen den Schmerz wappnete, dem ich entgegenging, dass es nicht einfacher war als früher, als wir Kinder waren, und wenn man noch so erwachsen geworden und seinen Weg gegangen war und eine eigene Familie hatte, es half alles nichts, daher kamen wir, von dieser Frau; ihr Schmerz würde uns nie fremd sein.
     
    Bevor ich losfuhr, hatte ich eine letzte Nachricht hinterlassen, im Lehrerinnenton, also Maman, jetzt reicht’s, Manon und ich machen uns Sorgen, ich komme jetzt zu dir.
     
    Als ich aus der Metro kam, ging ich über die Sente des Dorées, diese gerade Straße, die zu ihrer Wohnanlage hinaufführt, ich überquerte den Platz, die Luft war feucht, der Himmel ohne Licht.
    Ich klingelte, ich wartete einen Augenblick, bevor ich den Schlüssel ins Schloss steckte. Ich sah sie sofort auf ihrem Bett liegen, die Schlafzimmertür war offen, Lucile kehrte mir den Rücken zu. Ich rief Maman, Maman in diese Stille, ich glaube, ich stand einige Sekunden da und wartete auf ihre Antwort, dann trat ich weiter in den Flur, sie schläft, sagte ich mir, ich nahm alle Kraft zusammen, um mir das zu sagen, ich ging in ihr Schlafzimmer, die Vorhänge waren zugezogen, das Radio lief, das war ein Lebenszeichen, irgendwo war Leben, sie legte sich oft so hin, das Ohr am Transistorradio, ich ging näher, ich kauerte mich neben sie, ich schüttelte sie, sanft, dann heftiger, und sagte wieder Maman, Maman.
    Der Gedanke konnte mich nicht erreichen, es war nicht akzeptabel, es war unmöglich, das kam nicht in Frage, nein.
    Lucile lag auf der Seite, die angewinkelten Arme außerhalb der Decke, ich wollte sie umdrehen, doch ihr Körper war steif, leistete Widerstand, ich wollte das Radio, in dem, wie seit Anbeginn aller Zeiten, France Inter lief, ausstellen, ich konnte den richtigen Knopf nicht

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