Das Lächeln meiner Mutter
habe sie zehnmal, zwanzigmal entfernt, aber die bräunliche Haut kam wieder, als wäre an dieser Stelle etwas mit bloßem Auge nicht Erkennbares, das schimmelte oder oxidierte.
Eines Morgens warf ich das Transistorradio in einem Panikanfall weg.
Etwa zu dieser Zeit kam mir der – sofort wieder verworfene – Gedanke, über meine Mutter zu schreiben.
Und dann kam der Gedanke, wie die Aufgabe, wieder.
Vor einigen Monaten, ich hatte schon mit dem Schreiben dieses Buches begonnen, setzte sich mein Sohn, wie so oft, ins Wohnzimmer, um seine Hausaufgaben zu machen. Er musste Verständnisfragen zu »Die Arlesierin« beantworten, einer Novelle aus Alphonse Daudets Erzählungssammlung
Briefe aus meiner Mühle.
Auf Seite neunundneunzig des Französischbuchs
Lettres vives, classe de
5
e
wurde ihm folgende Frage gestellt: »Welche Einzelheiten beweisen, dass Jeans Mutter ahnte, dass ihr Sohn seine Liebe nicht überwunden hatte? Kann sie verhindern, dass er sich das Leben nimmt? Warum?«
Mein Sohn überlegt einen Augenblick und schreibt eifrig den ersten Teil seiner Antwort in sein Heft. Sehr kategorisch und völlig sachlich, so als hätte das alles nichts mit uns zu tun, spricht mein Sohn, während er sie niederschreibt, langsam die Antwort aus: »Nein. Niemand kann einen Freitod verhindern.«
Musste ich ein von Liebe und Schuldgefühlen geprägtes Buch schreiben, um zu demselben Schluss zu gelangen?
Unter Luciles Fotos, die wir in ihrer Wohnung fanden, entdeckte ich auf einem Bogen mit schwarzweißen Kontaktabzügen dieses winzige Bild meiner Mutter, das am Familientisch in Versailles oder Pierremont aufgenommen wurde. Auf demselben Bogen erkennt man auch Liane, Georges, Gabriel, Lisbeth und noch andere.
Lucile ist im Profil zu sehen, sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und hält eine Zigarette in der linken Hand, sie scheint jemanden oder etwas anzusehen, doch wahrscheinlich sieht sie nichts an, ihr Lächeln ist von einer geheimnisvollen Sanftheit.
Luciles Schwarz ist wie das des Malers Pierre Soulages. Luciles Schwarz ist ein
Jenseits-Schwarz,
dessen Leuchten, dessen intensive Spiegelungen, dessen geheimnisvolles Licht auf ein Anderswo deuten.
Jetzt suche ich nicht mehr, ich halte mich an den Brief, den Lucile hinterlassen hat. Ich verstehe Lucile, wie sie gern verstanden wurde: wortwörtlich.
Sie wusste und spürte, dass die Krankheit schließlich doch siegen würde, sie litt, sie war müde. Die Kämpfe, die sie ihr ganzes Leben lang hatte ausfechten müssen, hatten ihr für diesen Kampf nicht mehr die Kraft gelassen.
Lucile starb mit einundsechzig Jahren, bevor sie eine alte Dame wurde.
Lucile starb, wie sie es sich wünschte:
lebendig.
Jetzt bin ich in der Lage, ihren Mut zu bewundern.
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Danksagung
D er französische Titel »Rien ne s’oppose à la nuit« [Nichts steht der Nacht entgegen] stammt aus Alain Bashungs und Jean Fauques Chanson »Osez Josephine« [Wagen Sie es, Josephine], dessen düstere und mutige Schönheit mich während des ganzen Schreibens begleitet hat.
Ich danke meiner Schwester, den Geschwistern meiner Mutter, den Schwestern meines Vaters und allen, die mir ihr Vertrauen und ihre Zeit schenkten.
Endnoten
1
Der Originaltitel dieses Romans lautet:
Rien ne s’oppose à la nuit.
2
Gérard Garouste, mit Judith Perrignon,
L’Intranquille, autoportrait d’un fils, d’un peintre, d’un fou
[Der Unruhige, Selbstporträt eines Sohnes, Malers und Verrückten], Paris (L’Iconoclaste) 2009 .
3
Lionel Duroy:
Le Chagrin
[Der Kummer]. Paris (Juillard) 2010 .
4
aus: Christine Angot:
Inzest
[L’Inceste]. A. d. Frz. v. Christian Ruzicska u. Colette Demoncy, Köln (Tropen) 2001 .
5
Anders als in der amerikanischen und der deutschen Version werden die französischen Folgen mit einem Lied eingeleitet. Die erste Strophe lautet sinngemäß: Dallas, deine gnadenlose Welt verherrlicht das Gesetz des Stärkeren, und unter deiner erbarmungslosen Sonne fürchtest du nur den Tod.
6
aus: Charles Baudelaire:
Kleine Prosagedichte. Der Spleen von Paris
[im Original: Petits poèmes en prose. Le Spleen de Paris]. Herausgegeben, übertragen und mit einem Nachwort versehen von Irène Kuhn. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2000 .
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Über Delphine de Vigan
Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, wo sie heute noch mit ihren zwei Kindern lebt. Sie arbeitete viele Jahre für ein soziologisches Forschungsinstitut, bevor sie sich
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