Das Lächeln meiner Mutter
ich, was wir gerade erlebten und dass der Tod nicht wiedergutzumachen ist.
Später nahmen sie Luciles Leiche mit, in ihre Decken gewickelt, weil sie ihr Blut verloren hatte.
Später gingen Manon und ich auf das Polizeirevier, um unsere Aussage zu machen.
Wir mussten Violette, Justine und Barthélémy Bescheid geben. Lisbeth war auf Reisen, jemand hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter.
Wir mussten um den Autopsiebericht bitten und auf den Totenschein warten. Zwei Wochen mit dem Wissen leben, dass Lucile in einer Schublade des Gerichtsmedizinischen Instituts lag.
Diese ganze Zeit über konnte ich nicht sitzen, ich meine sitzen, ohne etwas zu tun, ohne dazu gezwungen zu sein, ich musste aufrecht sein, um den Angriffen des Schreckens Widerstand zu leisten, um das Adrenalin abzubauen, ich musste aufrecht sein, um gegen das Bild zu kämpfen, es auf Abstand zu halten.
Am Tag der Trauerfeier kamen meine Kindheitsfreundinnen Tad und Sandra aus ihren fernen Gegenden, um uns bei allem zu helfen, und auch Mélanie, meine liebe Freundin seit jeher. Wir gingen in den Supermarkt, wir kauften Rosen, wir bereiteten das Buffet vor, das es nach der Trauerfeier geben sollte. Dann trafen wir uns mit Justine, Violette und Tom, um in einem Bistro in der Nähe des Friedhofs Père-Lachaise zu Mittag zu essen. In nicht einmal zwei Monaten hatten wir Liane und Lucile verloren, und wieder hatte ich den Eindruck, das sei viel.
Es war ein kalter, sonniger Februartag, unendlich schön und unendlich traurig, der Himmel war klar.
In der Nähe des Krematoriums empfingen wir die Leute, die, allein oder in Grüppchen, von überallher und aus allen Epochen der Vergangenheit kamen, und wie immer wollte ich mich aufrecht halten, einfach Haltung bewahren, doch je mehr Leute heranströmten, desto schwieriger erschien es mir, ich musste tief einatmen und die Luft dann einige Sekunden anhalten, bevor ich sie wieder ausatmete. Ich war sehr bewegt, als ich den Vater meiner Kinder, mit dem die Beziehungen damals sehr kompliziert waren, kommen sah, und dann seine Eltern, ich sah Luciles Freunde, ich sah ihre Kollegen aus den Kliniken Avicenne und Lariboisière, ich sah meine Freunde, Manons Freunde, ich sah die Vettern, die Kusinen, die Onkel und Tanten, ich sah meine Verlegerin, ich sah Barthélémy, ich sah Marie-Noëlle, ich sah Camille und ihren Mann, ich sah Gaspard, meinen geliebten kleinen Bruder, ich sah Forrest und Nébo, und dann trat mein Vater auf mich zu, und da konnte ich nicht mehr.
Lucile hatte in ihrer Wohnung einige Anweisungen hinterlassen, wer was erhalten oder zurückerhalten sollte. Die Pléiade-Ausgabe von Rimbaud war für Manons Mann Antoine bestimmt.
In der Taschenbuchausgabe der
Kleinen Prosagedichte
war »Aufforderung zur Reise« mit einem Post-it markiert. Ich glaube, Lucile liebte Baudelaires Dichtung über alles.
Vor etwa fünfzig erschütterten Gesichtern verlas ich diesen Text, der so sehr zu ihr passt:
Kennst du jene Fieberkrankheit, die uns im kalten Elend ergreift, jene Sehnsucht nach dem Land, das man nicht kennt, jene bange, quälende Neugier? Es gibt eine Gegend, die dir gleicht, wo alles schön, kostbar, ruhig und unverfälscht ist, wo sich die Phantasie ein abendländisches China geschaffen und ausgeschmückt hat, wo das Leben süß zu atmen, wo das Glück mit der Stille gepaart ist. Dorthin müssen wir gehen, um zu leben, dorthin müssen wir gehen, um zu sterben! [6]
Luciles kleine Welt stand mir gegenüber, ein ganzes Leben aus vermischten Epochen und Universen, und nichts anderes, weder die Niederlagen noch der Schmerz, noch das Bedauern, hatte noch Bedeutung.
In dem Gang, der nach draußen führte, schaute ich kurz vor der Tür noch einmal zurück, eine absurde Gastgeberinnen-Geste, um sicher zu sein, dass alle mitgekommen waren, dass niemand zurückgeblieben war. Und da sah ich Nébos Gesicht, vom Schluchzen verzerrt. Nébo weinte völlig unverhohlen.
Als mein Vater draußen war, merkte er, dass er seine Brieftasche und all seine Papiere in dem Taxi vergessen hatte, mit dem er zum Krematorium gekommen war. In einer wunderbaren Fehlleistung war Gabriel ganz frei von sich gekommen, ohne Identität.
[home]
L ucile hatte für unsere Kinder kleine Geschenke hinterlassen und sie mit den jeweiligen Vornamen etikettiert.
Der Brief steckte in einer grauen Papiertragetasche, in der wir noch zwei weitere Päckchen fanden, für Manon und für mich, in jedem war
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