Das Lächeln meiner Mutter
Jahre alt, er war von seiner Mutter geschlagen und ihr dann weggenommen worden. Er hieß Jean-Marc, und man musste nett zu ihm sein. Dieses Kind war ein Märtyrer. Dieses Wort hatten sich die Geschwister in den Nachtstunden zugeflüstert, ein Märtyrer wie Jesus Christus und Oliver Twist, ein Märtyrer wie die Heiligen Stephanus, Laurentius und Paulus. Von nun an sollte Jean-Marc mit ihnen unter einem Dach leben, in Antonins Bett schlafen und wahrscheinlich auch dessen Kleidung tragen, er sollte mit ihnen zur Messe und zur Schule gehen und ins Auto steigen, um in die Ferien zu fahren, er sollte ihr
Bruder
sein. Als ihr dieses Wort in den Sinn kam, spürte Lucile, wie sich ihr Herzschlag vor Wut beschleunigte. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür.
Die Mädchen stürzten ihrem Vater entgegen. Lucile sah Georges’ Gesicht, seine angespannten, müden Züge, es war wohl ein weiter Weg gewesen. Für eine Sekunde, nein, nicht einmal eine Sekunde lang, hatte Lucile das Gefühl, ihrem Vater seien Zweifel gekommen. Und wenn Georges es bereute, dass er das Kind geholt hatte? Und wenn ihr Vater, der seit Wochen von der Ankunft des Jungen sprach und betonte, man müsse ihn wie ein Familienmitglied aufnehmen, Jean-Marc nicht mehr wollte?
Jean-Marc hielt sich hinter Georges und wurde von dem großen Körper, dem er zögernd folgte, verdeckt. Georges griff nach dem Jungen und ermunterte ihn, sich zu zeigen. Lucile betrachtete Jean-Marc, erst nur mit einem raschen Blick von oben nach unten und von unten nach oben, dann suchte sie seinen Blick. Der Junge war blass im Gesicht, außergewöhnlich blass, er hatte schwarzes Haar und einen zu kurzen, verschlissenen Pullover. Er zitterte. Sein Blick bohrte sich in den Boden, der Körper bog sich zurück, als drohe eine Ohrfeige. Eine nach der anderen traten Lisbeth, Lucile und Justine vor, um ihn zu küssen. Barthélémy und Milo kamen endlich auch aus ihrem Zimmer, beide mit einem sehr zweifelnden Gesichtsausdruck, und musterten Jean-Marc. Milo konnte nicht anders, er lächelte ihm zu. Jean-Marc war genauso groß wie er. Seine Tasche schien fast leer zu sein, Milo dachte, er könne ihm ein paar Sachen geben, zum Beispiel die Bleisoldaten, die er doppelt hatte, oder das Kartenspiel, mit dem er nicht mehr spielte. Milo hatte Lust, Jean-Marc an der Hand zu nehmen und ihn mit sich zu ziehen, doch als er Barthélémys feindselige Haltung sah, gab er den Gedanken auf.
Lucile konnte den Blick genauso wenig von dem Jungen lösen wie die anderen. Sie suchte auf seinem Gesicht nach den Spuren der Schläge, nach eitrigen Wunden, frischen Narben. So
märtyrerhaft
sah Jean-Marc gar nicht aus. Übrigens gab es an ihm weder einen Gips noch Verbände oder Krücken zu sehen, er humpelte nicht und blutete nicht aus der Nase. War er womöglich nur ein Simulant? Ein Gauner, wie man ihnen in den Büchern oder auf Landstraßen begegnete, die, grau und schmutzig im Gesicht, Obdach bei einer Familie suchten, um sie danach umso leichter berauben zu können? Das Kind hob endlich den Blick, der, wie verblüfft, auf Lucile verharrte. Die schwarzen, geweiteten Augen wurden sofort wieder niedergeschlagen, der Blick auf den Boden gerichtet. Jetzt bemerkte Lucile seine schmutzigen Fingernägel, die unbehaarten weißlichen Bereiche, die das kurz gestutzte Haar sehen ließ, und die dunklen, wie von Tränen gegrabenen Augenringe. Eine große Traurigkeit überfiel sie, mit einem Mal war sie hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, diesen Jungen zu verjagen, und dem, ihn in die Arme zu schließen.
Liane fragte Jean-Marc, ob er eine gute Reise gehabt habe, ob er müde sei oder Hunger habe. Aus seinem Mund kam kein Laut, er schien die größte Mühe zu haben, den Kopf in die eine oder die andere Richtung zu bewegen. Georges schlug Lisbeth vor, ihm die Wohnung zu zeigen. Lisbeth lud Jean-Marc ein, ihr zu folgen. Sie begann mit dem blauen Schlafzimmer der Jungen, die übrigen Kinder folgten ihnen, sie stießen sich mit den Ellbogen an, man hörte sie tuscheln und lachen, Jean-Marcs Socken hatten eine komische Farbe. Barthélémy hielt sich im Hintergrund. Von ferne beobachtete er den Jungen, und es gab an ihm nichts, rein gar nichts, was einem Vergleich standhielt. Jean-Marc war klein, dunkel und schmutzig und mit ein wenig Glück auch noch stumm. Wie hatte sein Vater glauben können, er könne Antonin durch einen solchen Tölpel ersetzen? Ja, einen Tölpel, wie Georges selbst es nannte, wenn er die Tölpel der
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