Das Lächeln meiner Mutter
ganzen Welt geißelte, und nun hatte er, ohne es zu merken, einen Tölpel in sein eigenes Haus geholt. In Barthélémy breitete sich heftiger Schmerz aus, als hätte er einen Fremdkörper verschluckt, einen erdverkrusteten Stein oder ein Stück Glas. Er würde Jean-Marc nie lieben können, er würde nicht einmal sein Freund sein können, er würde nie mit ihm auf die Straße hinuntergehen und schon gar nicht mit ihm im Park oder am Strand spielen können, er würde ihm nie ein Geheimnis anvertrauen oder einen Pakt mit ihm schließen können. Mochte der andere ihn ruhig anschauen wie ein geschlagener Hund, der mit seinen dünnen Ärmchen, er würde nicht nachgeben. Sein Bruder war tot, und sein Bruder war unersetzlich.
[home]
A n dieser Stelle habe ich aufgehört. Eine Woche verging und dann noch eine, ohne dass ich dem Text eine Zeile oder auch nur ein Wort hätte hinzufügen können, es war, als hätte er sich in einem vorübergehenden Stadium verfestigt, als sollte er für immer ein Entwurf, ein abgebrochener Versuch bleiben. Jeden Tag setzte ich mich an den Computer, ich öffnete die Datei
Rien
[1]
,
ich las den Text, löschte ein oder zwei Sätze, änderte einige Kommata, und dann eben
nichts,
absolut nichts. Es funktionierte nicht, es war nicht das Richtige, es hatte nichts mit dem zu tun, was ich wollte, was ich mir vorstellte, ich hatte den Schwung verloren.
Und doch war die Besessenheit da, sie weckte mich mitten in der Nacht, wie immer, wenn ich ein Buch anfange, so dass ich mehrere Monate lang innerlich schreibe, ständig, unter der Dusche, in der Metro, auf der Straße. Ich hatte das schon erlebt, diesen Besatzungszustand. Doch zum ersten Mal gab es in dem Augenblick, in dem ich etwas notieren oder tippen wollte, nur diese immense Müdigkeit, eine grenzenlose Mutlosigkeit.
Ich gestaltete meinen Arbeitsplatz um, kaufte einen neuen Stuhl, zündete Kerzen und Räucherstäbchen an, ich ging aus, lief durch die Straßen, ich las noch einmal die Notizen durch, die ich mir im Laufe der vergangenen Monate gemacht hatte. Die Kinderfotos von Lucile lagen ausgebreitet auf meinem Tisch, vergilbte Illustriertenseiten, Kontaktabzüge von Werbeserien und das berühmte Löschblatt, das an den Schulen verteilt worden war.
Um mir das Gefühl zu geben, ich käme voran, beschloss ich, die Gespräche, die ich geführt hatte, noch einmal niederzuschreiben, sie Wort für Wort aufzuschreiben. So macht man es in dem Metier, in dem ich lange tätig war, um den Inhalt zu analysieren, und zwar entsprechend einem gewöhnlich vorher festgelegten Lektüreraster, zu dem die von den Interviewten spontan angesprochenen Themen noch hinzugefügt werden. Ich fing also damit an und verbrachte ganze Tage mit dem Kopfhörer auf den Ohren, die brennenden Augen auf den Bildschirm gerichtet und von dem verrückten Wunsch beseelt, nichts zu verlieren, alles festzuhalten.
Ich horchte auf die Veränderungen in der Stimme, auf das Klicken der Feuerzeuge, das Ausstoßen des Zigarettenrauchs, auf die Papiertaschentücher, die man vergeblich sucht oder in die man sich geräuschvoll schneuzt, auf das Schweigen und auf die Worte, die herausrutschen oder sich ungewollt aufdrängen. Lisbeth, Barthélémy, Justine, Violette, die Geschwister meiner Mutter, und Manon, meine eigene Schwester, und all jene, die ich in den Wochen zuvor getroffen hatte, hatten mir ihr Vertrauen geschenkt. Sie hatten mir ihre Erinnerungen geschenkt, ihre Erzählung, die Vorstellung, die sie sich heute von ihrer Geschichte machen, sie hatten sich ausgeliefert, soweit es nur ging, bis an die Grenzen des ihnen Erträglichen. Und jetzt warteten sie, sie fragten sich wahrscheinlich, was ich aus alldem machen würde, welche Form es annehmen, welchen Schlag es bedeuten würde.
Und das schien mir mit einem Mal nicht zu bewältigen.
In dieser Flut von Wörtern und Schweigen gab es diesen Satz von Barthélémy zu Antonins Tod, diesen Satz, der mich aus dem Munde eines heute Fünfundsechzigjährigen getroffen hat:
»Wenn ich da gewesen wäre, wäre er nicht gestorben.«
Und weitere Sätze, hier und da, die ich gelb hervorgehoben habe und aus denen Trauer spricht, Angst, Unverständnis, Schmerz, Schuldgefühle, Zorn und manchmal Besänftigung.
Und dann Justines Worte, als ich sie nach dem Nachmittag, den sie bei mir verbracht hatte, um mir von Lucile zu erzählen, zur Metro begleitete:
»Du wirst deinen Roman in einem positiven Ton ausklingen lassen, du verstehst
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