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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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ihr.

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    M eine Großmutter Liane konnte wunderbar erzählen. Wenn ich an sie denke, und ihren legendären Spagat und ihre zahlreichen sportlichen Leistungen außer Acht lasse, dann sehe ich sie wieder in ihrer Küche sitzen, wie ein verschmitzter Kobold oder ein ins Haus gezogener Waldgeist in einen verrückten selbstgestrickten Schlafanzug aus roter Wolle gekuschelt (bis zu ihrem achtzigsten Lebensjahr trug Liane verschiedene Nachtbekleidungsmodelle eigener Herstellung, teils mit, teils ohne Kapuze und immer in lebhaften Farben), und mit blitzenden Augen und melodiösem Lachen zum hundertsten Mal dieselbe Geschichte erzählen. Sie erzählte mit Begeisterung. Zum Beispiel davon, wie sie mit zweiundzwanzig ihre Verlobung löste, nachdem ihre Mutter ihr wenige Tage vor dem schicksalsträchtigen Ereignis erklärt hatte, worin ihre künftige Rolle einer Ehefrau bestand. Liane wusste wie viele Mädchen ihres Alters und ihrer Herkunft so ziemlich nichts über Sex. Einige Monate zuvor hatte sie in die Verlobung mit einem jungen Mann aus guter Familie eingewilligt, der ihr dem zu entsprechen schien, was sie sich unter einem guten Ehemann vorstellte. Liane freute sich darauf, eine Dame zu werden. Doch das hieß nicht unbedingt, dass sie sich nackt neben diesen Mann legen und ertragen würde, dass er mit ihr die
Dinge
machte, die ihre Mutter erst recht spät zur Sprache gebracht hatte. Wenn sie es genauer bedachte, kam es überhaupt nicht in Frage. Liane erzählte gern von der strengen bürgerlichen Erziehung, die sie genossen hatte, vom Schweigegebot bei Tisch, von den Ansprüchen ihres Vaters und wie dieser, ein angesehener Anwalt in Gien, schließlich hinnahm, dass sie die Verlobung löste, obwohl das Hochzeitsessen schon bestellt und bezahlt war. Einige Monate später besuchte Liane eine ihrer älteren Schwestern, die in Paris lebte, und lernte auf einer Party meinen Großvater kennen. Damals war Liane Turnlehrerin an der Mädchenschule, an der sie auch Schülerin gewesen war. Georges erklärte Liane, sie sei eine bezaubernde kleine blaue Fee; Liane trug ein grünes Kleid. Georges war nicht farbenblind, aber er wusste, wie man Frauen überrascht. Liane verliebte sich unverzüglich in ihn. Dieses Mal erschien es ihr nicht nur möglich, mit diesem Mann nackt in einem Bett zu liegen, es erschien ihr sogar wünschenswert.
    Georges stammte aus einer Fabrikantenfamilie, die ein dem Glücksspiel verfallener Vorfahre ruiniert hatte. Georges’ Vater arbeitete zunächst lange als Eisenbahner und wurde dann Journalist bei
La Croix du Nord.
Da die Zeitung ihr Erscheinen unter der deutschen Besatzung einstellte, geriet Georges’ Familie in große Schwierigkeiten. Obwohl Georges aus weit weniger bürgerlichem Milieu stammte als Liane, akzeptierten ihn die Eltern meiner Großmutter, und die beiden heirateten 1943 . Einige Monate darauf kam Lisbeth zur Welt.
    Es steht für mich außer Frage, dass meine Großeltern sich geliebt haben. Liane bewunderte Georges’ Intelligenz, seinen Humor und seine natürliche Autorität. Georges liebte Liane wegen ihrer außergewöhnlichen Vitalität, ihres melodiösen Lachens und ihrer unerschütterlichen Arglosigkeit. Sie waren ein seltsames Paar: er, allem Anschein nach ein Verstandesmensch, jedoch völlig von seinen Affekten gelenkt, und sie, nach außen hin so gefühlsbestimmt, doch solide wie ein Felsblock und zutiefst davon überzeugt, sie sei dumm.
     
    In der Küche des Hauses, in dem sie ab den Sechzigern bis zu ihrem Lebensende gelebt haben, waren an den Innenseiten eines großen Schranks, der lange als Durchreiche gedient hat, die Geburtsdaten – und gegebenenfalls auch das Todesjahr – aller ihrer Nachkommen verzeichnet. Als ich klein war, standen diese Daten mit Kreide auf eine Tafel geschrieben; als die Küche gelb gestrichen wurde (ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt), verschwand die Tafel und wurde durch einen Bogen Papier ersetzt, auf den die Daten mit dickem blauem Filzstift übertragen worden waren.
    Meine Mutter Lucile war das dritte von neun Kindern. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, wäre sie dreiundsechzig Jahre alt. Als ich mit meinen Recherchen anfing, schickte mir Lisbeth per Mail das gescannte Foto der Schranktüren, es wurde vor zwei Jahren aufgenommen, als das Haus ausgeräumt werden musste. Ich habe das Foto in Farbe ausgedruckt und auf die erste Seite des Notizheftes geklebt, das mich inzwischen ständig begleitet. Ich gebe hier den Inhalt der linken

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