Das Lächeln meiner Mutter
doch, daher stammen wir alle.«
Einer Freundin, mit der ich in der Zeit, als ich diese Niederschriften abschloss und immer noch nicht schreiben konnte, zu Mittag aß, erklärte ich: Meine Mutter ist tot, aber ich gehe mit lebendem Material um.
Ich hatte über Antonins Tod geschrieben – der in der Familienmythologie als
die
am Anfang stehende Tragödie (es sollte noch weitere geben) betrachtet wird. Deshalb musste ich unter den mir angebotenen Versionen diejenige auswählen, die mir am wahrscheinlichsten erschien oder jedenfalls dem am ähnlichsten war, was mir meine Großmutter Liane erzählte, auf einem Hocker in dieser unglaublichen senfgelben Küche sitzend, die meine Kindheit geprägt hat und die es heute nicht mehr gibt. In einer anderen Version machen beide Großeltern, Liane und Georges, mit den Kindern Ferien in L. und lassen sie für kurze Zeit allein, um bei dreihundert Meter entfernt wohnenden Nachbarn zu Mittag zu essen. Antonin und Tommy fallen in den Brunnen, sie rennen herbei, es ist zu spät. In noch einer anderen alarmieren die Kinder meine Großmutter, die mit ihrem dicken Bauch in den Brunnen taucht und von Zeit zu Zeit wieder nach oben kommt, um Luft zu holen. Die einen behaupten, die beiden Jungen seien auf den Brettern herumgesprungen, bis sie brachen, die anderen, sie hätten friedlich Figuren aus Tonschlamm geformt, als die morschen und von Tieren angenagten Bretter unten ihrem Gewicht nachgaben. In wieder einer anderen Version ist nur Antonin hineingefallen, und Tommy konnte den Sturz vermeiden.
Was hatte ich mir gedacht? Dass ich Luciles Kindheit allwissend und allmächtig in einer objektiven Geschichte erzählen könnte? Dass es genügen würde, aus dem mir anvertrauten Material zu schöpfen und meine Wahl zu treffen wie im
Selbstbedienungsladen?
Aber mit welchem Recht?
Wahrscheinlich hatte ich gehofft, aus diesem seltsamen Material würde sich eine Wahrheit herausschälen. Aber es gab keine Wahrheit. Ich hatte nur verstreute Bruchstücke, und schon das Ordnen dieser Bruchstücke war eine Fiktion. Was immer ich schriebe, ich wäre im Reich der Fabel. Wie hatte ich mir auch nur einen Augenblick lang vorstellen können, ich würde über Luciles Leben Rechenschaft ablegen können? Was versuchte ich eigentlich, wenn nicht dem Schmerz meiner Mutter näherzukommen, seinen Umfang, seine versteckten Winkel und den Schatten, den er warf, zu erkunden?
Luciles Schmerz war Teil unserer Kindheit und später unseres Erwachsenenlebens, vermutlich ist Luciles Schmerz für mich und meine Schwester persönlichkeitskonstituierend. Dennoch ist jeder Erklärungsversuch zum Scheitern verurteilt. Daher werde ich mich damit begnügen müssen, Bruchstücke, Fragmente, Hypothesen aufzuschreiben.
Das Schreiben vermag nichts. Es ermöglicht es einem höchstens, Fragen zu stellen und die Erinnerung zu befragen.
Luciles Familie, und damit auch unsere, hat im gesamten Verlauf ihrer Geschichte zahlreiche Fragen und Hypothesen hervorgerufen. Die Menschen, die ich im Laufe meiner Recherchen traf, sprechen von Faszination; das habe ich auch oft in meiner Kindheit gehört. Meine Familie verkörpert das Lärmendste, das Spektakulärste der Freude, den unermüdlichen Nachhall der Toten und den Widerhall des Unheils. Heute weiß ich, dass sie außerdem, wie so viele andere Familien auch, ein Beispiel für das Zerstörungspotenzial der Worte und das des Schweigens ist.
Heute sind Luciles Geschwister (diejenigen, die noch leben) über ganz Frankreich verteilt. Liane ist anderthalb Monate vor meiner Mutter gestorben, und ich glaube, ich täusche mich nicht, wenn ich sage, dass der Tod Lianes, die schon drei Kinder verloren hatte, Lucile das lang erwartete grüne Licht dafür gab, ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Jeder hat seine eigene Sicht der Ereignisse, die die Familiengeschichte begründen. Diese unterschiedlichen, manchmal widersprüchlichen Sichten sind zerstreute Splitter, deren Zusammensetzen oder -tragen zu nichts nütze wäre.
Eines Morgens stand ich auf und dachte, ich müsse schreiben, selbst wenn ich mich dazu am Stuhl festbinden müsste, und ich müsse weitersuchen, selbst in der Gewissheit, dass ich nie eine Antwort finden würde. Dieses Buch wäre vielleicht genau das, der Bericht über diese Suche, der sein eigenes Entstehen enthält, seine erzählerischen Irrwege, seine steckengebliebenen Versuche. Aber es wäre dieser zögernde, unvollendete Impuls von mir hin zu
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