Das Land zwischen den Meeren
Sibylla Fassbender hatte sich zu ihrem malvenfarbenen Kleid einen passenden Mantel schneidern lassen und wirkte neben ihrem Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, wie eine sanft leuchtende Sommerblüte. Ein dunkelvioletter Hut mit dazu passend eingefärbten Federn ergänzte das elegante Ensemble. Die Mutter zog die Nase kraus und musterte die Tochter von oben bis unten.
»Hättest du nicht eine lebhaftere Farbe wählen können als ausgerechnet dieses fade Lindgrün? Bei deiner weißen Haut und den hellen Haaren siehst du nur noch blasser aus. Wie willst du damit Eindruck machen? Nun sag du doch auch etwas, Hermann!«
Der Vater nickte geistesabwesend und kehrte noch einmal ins Ankleidezimmer zurück, weil er seinen Zylinder vergessen hatte. Mit zusammengepressten Lippen floh Dorothea in ihren Traum von vorhin, sah sich mit Alexander Hand in Hand durch einen dichten Wald schlendern. Einen Wald voller hoher, schlanker Bäume, deren grüne, fächerähnliche Blätter sich wie ein schützendes Dach über ihnen ausbreiteten.
Die Mutter hatte darauf bestanden, eine Droschke zu nehmen. Die Strecke zwischen ihrer Wohnung in der Großen Brinkgasse bis zum Haus der Gastgeber in der Apostelnstraße war gering. Sie hätten den Weg mühelos innerhalb weniger Minuten zu Fuß zurücklegen können. Doch welchen Eindruck hätte das gemacht? Als wenn sich die Familie eines Arztes keine Kutschfahrt leisten könnte.
An diesem Abend schien ganz Köln unterwegs zu sein. Mehrmals machte Hermann Fassbender den vorbeifahrenden Kutschern ein Zeichen, sie sollten anhalten, aber in keinem der Ein- und Zweispänner waren noch drei Plätze frei. Und dann plötzlich schien es Dorothea, als wanke der Boden unter ihren Füßen und ihr Herzschlag setze aus. Um die Straßenecke bog ein junger Mann mit grauer Mütze und einer Tasche unter dem Arm. Ein ausgefranster Schal baumelte ihm nachlässig geknotet vor der Brust. Mit festen, federnden Schritten kam er geradewegs auf die Wartenden zu. Alexander! Dorotheas Herz raste, und das anfängliche Glücksgefühl wich jähem Erschrecken. Was … was hatte er um diese Uhrzeit und ausgerechnet hier zu suchen?
Doch da machte er auch schon vor ihnen Halt, lüftete die Mütze und lächelte ein freundliches, offenes Lächeln. »Guten Abend, Fräulein Fassbender. Sehr erfreut. Das sind vermutlich Ihre werten Eltern. Darf ich mich vorstellen: Weinsberg mein Name.«
Er verbeugte sich zuerst vor der Mutter, dann vor dem Vater, und Dorothea las bereits in deren kühlen Mienen, dass dies ganz und gar nicht die Begegnung würde, die sie sich gewünscht hätte.
»Sie sind so spät noch im Dienst?«, fragte Dorothea, um das demonstrative Schweigen der Eltern zu überspielen. Sie hoffte, dass ihre Stimme nichts von ihrer inneren Anspannung verriet.
»Allerdings. Am Hahnentor ist gegen Mittag ein Juweliergeschäft ausgeplündert worden. Der Besitzer wurde in seinem Bureau geknebelt und gefesselt und konnte sich erst nach Stunden befreien. Ich soll ihn befragen und mir den Überfall schildern lassen.«
»Sie kennen unsere Tochter?« Dorothea hatte durchaus den Ellbogenstoß der Mutter beobachtet, mit dem sie den Vater aufforderte, das Wort an den Fremden zu richten und die eigenartige Situation zu klären.
»Sehr wohl … wenn auch nur flüchtig«, fügte Alexander rasch hinzu, als er Dorotheas flehentlichen Blick bemerkte. »Wir sind uns zufällig begegnet, als ich für einen Zeitungsbericht über den funktionsgerechten Mechanismus von Regenschirmen recherchierte.«
Erleichtert atmete Dorothea auf. Als sie den Schalk in seinen Augen sah, hätte sie ihm gern zu verstehen gegeben, wie sehr sie sich über die unverhoffte Begegnung freute. Doch leider hatte sie sich in ihren Ahnungen nicht getäuscht. Nur zu deutlich spürte sie die Abneigung, die Alexanders Gegenwart bei den Eltern auslöste. Geflissentlich sahen sie an ihm vorbei und suchten angestrengt nach einer Fahrgelegenheit.
»Warten Sie auf eine Droschke? Das dürfte schwierig werden. Außer mir scheint heute Abend niemand in der Stadt zu Fuß unterwegs zu sein. Ach, den Kutscher da drüben kenne ich!« Er steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus. »Hierher, Gustav! Die Herrschaften wollen sich nur dem besten Pferdelenker der Stadt anvertrauen.«
Der Kutscher wechselte auf die andere Straßenseite und ließ die drei Fassbenders einsteigen.
»Nun, dann wünsche ich noch einen schönen Abend.« Alexander verbeugte sich erneut,
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