Das Land zwischen den Meeren
Unterhaltung zu stehen.
»Aber wer wird an einem Abend wie diesem denn von Krankheiten sprechen? Sollten wir nicht lieber noch etwas von dem prickelnden Getränk zu uns nehmen? Da vergisst man doch auf der Stelle alle Wehwehchen.« Sibylla Fassbender wandte sich demonstrativ zur Seite und suchte Augenkontakt zu einem Diener, der ihr sogleich ein frisches Glas brachte.
»Bitte, liebe Gäste, kommen Sie alle mit nach nebenan in den Musiksalon!« Die helle Stimme der Gräfin drang durch den Salon, und die Angesprochenen begaben sich ins Nachbarzimmer. Dort waren brokatbezogene Stühle in engen Reihen rings um einen Konzertflügel aufgestellt. Als alle sich niedergelassen hatten, trat der Graf vor.
»Meine Freunde«, begann er, »wir freuen uns, Sie in unserem Haus willkommen zu heißen. Für den heutigen Abend haben wir eine Überraschung für Sie vorbereitet. Eine liebe Freundin meiner Frau wird Sie mit ihren Sangeskünsten unterhalten. Es handelt sich um eine Künstlerin, die in der ganzen Welt verehrt wird und die eigens für diesen Abend zu uns nach Köln gereist ist. Sie ist in allen großen Opernhäusern Europas zu Hause und feiert dort Triumphe. Des weiteren hat sie vor Kaisern und Königen gesungen und dabei alle mit ihrem Charme bezaubert.«
Neugierde machte sich im Publikum bemerkbar. Die Frauen wedelten mit den Fächern, die Männer reckten die Hälse, um sich nichts von der angekündigten Attraktion entgehen zu lassen.
»Begrüßen Sie mit uns die bewundernswerte und einzigartige – Jenny Lind!«
Bei der Nennung dieses Namens entfuhr den Frauen ein Aufschrei des Entzückens. Einige Männer rückten erregt ihre Zwicker zurecht oder holten die Operngläser hervor. Atemlose Stille herrschte, als eine Seitentür des Salons sich öffnete und eine junge Frau in einem schlichten dunkelroten Seidenkleid hereinkam. Mit ihren leuchtenden Augen und einem feinen Lächeln zog sie sogleich das Publikum in ihren Bann, das stürmisch Beifall klatschte.
Dorothea rutschte auf dem Stuhl hin und her und versuchte, zwischen den Gästen vor ihr hindurch einen Blick auf die berühmte Sängerin zu erhaschen, über deren triumphale Erfolge sie schon oft in der Zeitung gelesen hatte. Von ihren Bewunderern wurde sie die »schwedische Nachtigall« genannt. Kaum jemandem war aufgefallen, dass in der Zwischenzeit auch der Pianist eingetreten war. Ein hagerer kleiner Mann mit schlohweißem Haar, das er im Nacken zu einem dünnen Zopf geflochten hatte.
Jenny Lind wandte sich in nahezu akzentfreiem Deutsch ans Publikum. »Ich freue mich, heute für Sie singen zu dürfen. Als Erstes werden Sie hören die Arie der Alice aus der Oper ›Robert der Teufel‹ von Giacomo Meyerbeer.«
Sie machte dem Pianisten ein Zeichen, und dann sang sie mit solcher Ausdruckskraft und Makellosigkeit, dass die Zuhörer den Atem anhielten. Die glashelle Stimme erfüllte den Raum und drang bis tief in die Herzen der Zuhörer. Niemand im Raum vermochte sich der Faszination dieser Darbietung zu entziehen.
Ein Geräusch, als wenn ein schwerer Körper zu Boden fiele, riss Dorothea aus ihrer Konzentration. Sie blickte hinter sich und entdeckte eine Frau, die reglos am Boden lag. Gerade wollte sie sich erheben, um zu Hilfe zu eilen, als ihr Vater ihr mit einem Zeichen, sitzen zu bleiben, befahl. Aus den Augenwinkeln verfolgte sie, wie er und ein weiterer Mann sich um die Frau kümmerten. Dann winkte der Vater zwei Diener heran. Mit vereinten Kräften wälzten sie die große, schwere Frau auf einen Teppich und zogen sie eilig hinter sich her zur Tür. Die meisten Gäste hatten von dem Vorfall allerdings nichts mitbekommen.
Frenetischer Beifall brandete auf, als die Sängerin geendet hatte. Es folgten weitere Gesangsstücke, Schuberts »Heideröslein« sowie eine Arie der Agathe aus Webers »Freischütz«. Zum Schluss gab sie ein Lied des Komponisten Mendelssohn-Bartholdy zum Besten. Bei der letzten Strophe erbebte Dorothea innerlich. Ihr war, als sage die Sängerin ihr persönlich die Zukunft voraus.
»Dort wollen wir niedersinken / Unter dem Palmenbaum / Und Liebe und Ruhe trinken, / Und träumen seligen Traum.«
Freudig und dankbar nahm Dorothea diese Zeilen als gutes Omen auf, wünschte sich, Alexander wäre in diesem Augenblick bei ihr. Minutenlanger Beifall durchtoste den Salon, Bravorufe hallten der Künstlerin von allen Seiten entgegen. Die Gräfin hob die Hände und bedeutete den Gästen, still zu sein.
»Liebe Freunde, wir durften einen
Weitere Kostenlose Bücher