Das Land zwischen den Meeren
klemmte sich die Tasche fest unter den Arm und blickte der Droschke sehnsüchtig hinterher.
»Vielen Dank auch!«, rief Dorothea ihm noch zu, raffte ihren Rock und setzte sich auf die schmale Lederbank. Die Mutter rang nach Luft und funkelte die Tochter erbost an.
»Ein Dankeschön hättest du dir weiß Gott sparen können. Der Kutscher wollte ohnehin auf unsere Seite wechseln. Was erlaubt sich dieser dahergelaufene Schreiberling? Der soll sich erst einmal kämmen und die Schuhe putzen, bevor er mit unsereinem spricht. Wahrscheinlich einer von diesen Politischen, die in ihren Artikeln aufrührerisches Gedankengut verbreiten … Und mit so jemandem unterhältst du dich auf der Straße? Schäm dich, Dorothea! Hermann, nun sag du doch auch etwas!«
Hermann Fassbender schreckte aus seinen Gedanken auf, nickte und sah Dorothea mit mahnendem Blick an. »Deine Mutter hat vollkommen recht. Solche Aufhetzer gehören in Gewahrsam genommen, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten.«
Er ist der feinsinnigste und klügste Mensch, der mir je begegnet ist, und wir lieben uns!, schrie es in Dorothea. Ihre Eltern hatten ja keine Ahnung. Alexander verrichtete eine gute und ehrliche Arbeit. Und bald würde er etwas Außergewöhnliches schreiben, das spürte sie genau. Zum Glück gab es Menschen, die um seine Qualitäten wussten und die ihn in ein fernes Land schicken wollten, damit er es erforschte und darüber berichtete. Und sie, Dorothea, würde mit ihm gehen – als seine Frau.
Vor der Tür zum Salon hatte sich eine Schlange von Gästen gebildet. Alle warteten darauf, vom Hausherrn und seiner Ehefrau persönlich in Empfang genommen zu werden. Der Geruch von Kölnisch Wasser, das die Damen in reichlichen Mengen aufgetragen hatten, vermischte sich mit dem von Pfeifentabak, der der Kleidung der Herren entströmte. Graf Schenck zu Nideggen, ein weißhaariger schlanker Mann von etwa siebzig Jahren mit einem Zwicker auf der Nase, streckte seinem Gast die Rechte entgegen.
»Herr Doktor Fassbender, schön, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Man hört ja wahre Wunderdinge über Ihre Heilkünste … Und das ist also die werte Frau Gemahlin.« Graf Schenck zu Nideggen beugte sich höflich zum Handkuss vor, woraufhin Sibylla Fassbender, ganz gegen ihre Gewohnheit, leicht errötete. »Charmant, wirklich sehr charmant«, setzte der Graf hinzu.
Dorothea verspürte eine gewisse Aufregung – nie zuvor hatte sie einer solch hochgestellten Persönlichkeit unmittelbar gegenübergestanden. Mit gewinnendem Lächeln drückte der Graf ihre Hand. »Und das Fräulein Tochter … bezaubernd, ganz bezaubernd.«
Die Gräfin mischte sich mit einem glucksenden Lachen ein. Sie war um einige Jahrzehnte jünger, klein, rundlich und voll ansteckender Fröhlichkeit. »Mein Mann kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus – bei so vielen schönen Damen. Bestimmt wird er heute Nacht von dem aufregenden Abend träumen.«
Dorothea bewunderte die unbekümmerte, heitere Art der Hausherrin, die so gar nichts Gekünsteltes an sich hatte. »Seien Sie herzlich willkommen, und« – die Gräfin deutete auf einen Diener, der über den Köpfen der Gäste ein Tablett mit vollen Gläsern balancierte – »kosten Sie unbedingt den Champagner und die Canapés.«
Während die Eltern sich zwei Gläser Champagner reichen ließen, griff Dorothea zu einem goldgeränderten Porzellanteller mit einem Scheibchen Brot und einem gerollten Stück Fisch, das mit frischem grünem Dill bestreut war. Sie mochte keine alkoholischen Getränke, hätte obendrein nicht gewusst, wie sie mit der einen Hand das volle Glas halten und gleichzeitig das dargereichte Appetithäppchen hätte essen sollen. Vorsichtig kostete sie die unbekannte Speise, die ganz vorzüglich schmeckte.
Die Gäste drängten sich vor dem Salon, plauderten und scherzten miteinander, grüßten mit einem Kopfnicken in die eine oder andere Richtung. Zwei Ehepaare, offenbar weitläufige Bekannte, hatten ihren Vater in Beschlag genommen, erzählten ungeniert und ausführlich von ihren diversen körperlichen Beschwerden. Bereitwillig ließ Hermann Fassbender sich in ein medizinisches Fachgespräch verwickeln, wurde aber brüsk von seiner Ehefrau unterbrochen. An der Art, wie sie die Mundwinkel verzog, erkannte Dorothea eine starke Gereiztheit. Wobei sie nicht genau wusste, ob die Mutter die Fachsimpelei missbilligte, zu der ihr Mann sich hatte hinreißen lassen, oder ob sie sich daran stieß, nicht im Mittelpunkt der
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