Das Land zwischen den Meeren
wenn die beiden in eine Schule gingen und Klassenkameraden hätten, mit denen sie spielen oder auch streiten könnten, kam ihr plötzlich in den Sinn.
Sie selbst war als Kind jedenfalls froh gewesen, den Vormittag mit Gleichaltrigen verbringen zu dürfen. Zwar gaben die Nonnen sich streng, und das Lernen bei ihnen war kein Honigschlecken. Doch selbst die allseits gefürchteten Klassenarbeiten empfand Dorothea immer noch angenehmer, als daheim die wechselnden Launen ihrer Mutter ertragen zu müssen, der sie nie etwas recht machen konnte.
Dorothea drängte ihre trüben Gedanken beiseite und suchte nach einer klaren und zugleich unverfänglichen Antwort. »Ich unterrichte Maria gern, Frau Rodenkirchen. Ihre Tochter ist ein fröhliches und höfliches Kind. Offensichtlich kommt sie ganz nach ihrer liebenswerten Frau Mutter.«
Geschmeichelt blickte Agnes Rodenkirchen auf und reckte den Hals. »Nicht wahr, das haben Sie sehr richtig beobachtet, Fräulein Fassbender. Maria und ich sind uns vom Wesen her recht ähnlich … Ach ja, noch etwas. In der Woche vor Ostern fahre ich mit den Kindern auf unseren Landsitz nach Wermelskirchen. Meine jüngste Schwester heiratet, und ich will ihr bei den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zur Seite stehen. Wir werden insgesamt vierzehn Tage dort bleiben. Somit können Sie ebenfalls Ferien machen und ausspannen. Selbstverständlich zahlen wir Ihr Gehalt weiter.«
So verlockend diese Vorstellung war, so sehr fürchtete Dorothea, zwei Wochen untätig zu Hause verbringen zu müssen. Doch vielleicht konnte sie nach längerer Zeit wieder einmal ihre Patentante in Deutz besuchen, auch wenn dies den Eltern sicher nicht gefallen würde. Tante Katharina war alleinstehend und würde sich über ein wenig Abwechslung sicher freuen. Mit ihr zusammen würde sie einige unbeschwerte Tage verbringen, ganz ohne die üblichen mütterlichen Reglementierungen.
Agnes Rodenkirchen erhob sich erstaunlich behände und streckte Dorothea die Hand entgegen. »So leben Sie wohl, Fräulein Fassbender. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich muss der Köchin Anweisungen für das Abendessen geben.«
»Vielen Dank, gnädige Frau.« Dorothea griff nach ihrem Hut und dem Mantel, die die Zofe auf der Kommode für sie bereitgelegt hatte. Leise zog sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und sprang die Stufen hinunter. Das Klacken ihrer Absätze hallte durch das weite, mit schneeweißem Marmor verzierte Treppenhaus.
Sie hatten sich in Elises Café am Neumarkt verabredet, ließen sich Rosinenkrapfen schmecken und tranken Melissentee. Mit geheimnisvoller Miene griff Alexander in seine braune Ledertasche, zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus und breitete es auf dem Tisch aus. Es war eine knittrige, schon abgegriffene Landkarte. Mit einer Hand deutete er auf den Kupferstich, mit der anderen strich er unter dem Tisch über Dorotheas Knie.
»Hierher werden wir schon bald reisen … Wenn du erlaubst, dass ich den Lehrer spiele … Kolumbus ging im Jahr fünfzehnhundertzwei auf einer Insel vor der Karibikküste vor Anker. Er vermutete dort Goldschätze und nannte das Land Costa Rica, das heißt reiche Küste. Es liegt in der Mitte zwischen Nord- und Südamerika. Im sechzehnten Jahrhundert wurde Costa Rica von den Spaniern erobert. Sie schleppten Krankheiten ein, an denen Zigtausende der indianischen Ureinwohner starben. Die meisten der heutigen Bewohner sind Nachfahren europäischer Einwanderer. Ein wesentlich kleinerer Anteil sind Indios.«
Mit glühenden Wangen sog Dorothea jedes Wort in sich ein. Sie zog die Karte näher zu sich heran und blickte auf den schmalen Streifen Land, versäumte vor lauter Aufregung, Alexander wegen seiner ungehörigen Tuchfühlung zu schelten. Der setzte voller Elan seine Erklärungen fort.
»Dieser Kupferstich ist leider ziemlich ungenau. Die Region ist kartografisch noch längst nicht vollständig erfasst. Costa Rica hat Strände, Berge, Seen, Vulkane – und nur zwei Jahreszeiten. Eine Regen- und eine Trockenzeit. Selbst im Hochland, wo die großen Kaffeeplantagen liegen, fallen die Temperaturen nie unter zwanzig Grad. Und dies« – er tippte mit dem Zeigefinger auf verschiedene Stellen – »ist alles Urwald. Grüne, feuchtwarme Oasen mit Affen, Schlangen, Gürteltieren, Kolibris, Orchideen, Lianen … ach, mit so vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen, wie wir sie uns überhaupt nicht vorstellen können.«
Dorothea vertiefte sich in die Darstellung, malte
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