Das Land zwischen den Meeren
dahinterstecken könnte?« Doch sie blickte in ratlose Gesichter.
Teresa streichelte ihrem kleinen Sohn über den Kopf, den sie sich in einem Tuch vor den Leib gebunden hatte. Ihre sonstige Fröhlichkeit und Zuversicht waren wie weggeblasen. Sie schluchzte. »Jetzt wissen wir wieder nicht, wohin wir sollen.«
»Ihr kommt mit zur Hacienda Margarita«, entschied Dorothea ohne Zögern. »Zurzeit ist keine Ernte, die Arbeiterhütten stehen leer. Gleich morgen früh gehe ich zum Polizeipräsidenten und rede mit ihm. Das Missverständnis klärt sich sicherlich rasch auf.«
Die Frauen atmeten auf und drückten ihr nacheinander die Hand. »Danke, Doña Dorothea. Was würde nur ohne Sie aus uns?«
Da Dorothea wusste, dass ihr Schwiegervater die Anwesenheit der Heimbewohnerinnen auf seinem Grund und Boden nicht widerspruchslos hinnehmen würde, schilderte sie ihrem Mann in knappen Worten, dass die Mädchen in einer Notlage seien, weswegen sie für einige Tage auf der Hacienda Margarita Unterschlupf finden müssten.
»Es tut mir leid, Liebes, ich bin gerade dabei, eine wichtige Depesche an einen Geschäftspartner zu verfassen. Danach will ich mich bei Vater für deine Schützlinge verwenden. Lass uns am Nachmittag über alles Weitere sprechen.«
Nachdem unter ihrer Aufsicht die Bewohnerinnen der Casa Santa Maria ihr provisorisches Domizil bezogen hatten, schlenderte Dorothea ganz in Gedanken vertieft über die Hacienda. Wer war ihr Widersacher? Und wo verbarg er sich? Erst der zerstörte Brennofen und nun die Schließung … Vor dem Verwaltungsgebäude sah sie ihren Schwiegervater vor der Tür stehen. Ob er mit der Sache zu tun hatte? Ihm war das Heim schon lange ein Dorn im Auge. Außerdem besaß er beste Kontakte in die höchsten Regierungs- und Verwaltungskreise.
Zwar hatte er schon seit Wochen das Wort nicht mehr an Dorothea gerichtet, doch davon wollte sie sich nicht länger beeindrucken lassen. Sie trat ihm entgegen und erzählte ihm spontan, was geschehen war. Ungerührt reckte Pedro das Kinn vor und wollte schon weitergehen, tat dabei so, als wäre Dorothea Luft. Erst als sie sich ihm in den Weg stellte, ließ er sich zu einer Antwort herab.
»Ich hatte soeben in dieser Angelegenheit eine höchst unerfreuliche Auseinandersetzung mit meinem Sohn. Und ob das Gesindel tatsächlich in den von mir errichteten Arbeiterhütten bleiben kann, darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen … Im Übrigen wird schon etwas dran sein. Solche Vorwürfe fallen schließlich nicht vom Himmel. Den Eingeborenen ist eben nicht zu trauen«, knurrte er und zog sich in sein Kontor zurück.
Harsche Worte, die Dorothea aufs Neue betroffen und wütend machten. Hörte sie irgendwelche Anfeindungen, die gegen sie persönlich gerichtet waren, so konnte sie gut damit umgehen. Weil sie für ihr Handeln und ihr Leben weder die Zustimmung noch den Beifall anderer Menschen brauchte. Doch in diesem Fall hatten ihre Schützlinge die Folgen zu tragen, und das schmerzte sie tief. Diese Mädchen, die das Schicksal benachteiligt hatte, konnten seit wenigen Monaten erstmals sorgenfrei leben und arbeiten. Dank ihrer unerwarteten Verkaufserfolge hatten sie neuen Mut gefasst, entwickelten ein erstes, zart keimendes Selbstbewusstsein. Und das alles wurde nun zunichte gemacht durch perfide Vorwürfe und Unterstellungen.
Dorothea hatte ihrem Leben eine neue Richtung und einen tieferen Sinn geben wollen. Sollte sie schon nach so kurzer Zeit an ihren selbst gesteckten Zielen scheitern? Beim Nachmittagstee erzählte sie Antonio ausführlich von den neuen Schwierigkeiten mit dem Heim.
»Ich nehme mir den Polizeipräsidenten zur Brust. Er soll mir den Namen des Lügners nennen und ihn zur Rechenschaft ziehen«, drohte er, und Dorothea freute sich insgeheim, dass ihr Mann sich so entschieden auf ihre Seite stellte.
»Nein, Antonio, am liebsten würde ich selbst mit ihm reden. Er soll wissen, dass sich meine Schützlinge von niemandem einschüchtern lassen. Und ich erst recht nicht.«
Sie setzte sich in ihren Schaukelstuhl auf dem Balkon und gab sich der sanft schwingenden Bewegung hin. Milde Luft umfing sie. Von Osten, von den Bergen her, zogen dunkle Wolken auf, ein fernes Donnern kündigte das nahende Gewitter an.
Neben ihr auf dem Tischchen lagen zwölf Skizzenbücher, alle der Reihe nach nummeriert. Das erste hatte sie begonnen, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war, das letzte war erst zu drei Vierteln voll. Sie nahm die Bücher zur Hand und
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