Das Land zwischen den Meeren
bis zum Hals, die Knie gaben nach, und die Gestalt vor ihr löste sich in einer Nebelwolke auf. Dorothea streckte die zitternden Hände aus und fühlte, wie kräftige Arme sie auffingen. Sie roch ein Rasierwasser, das nach Leder, Seife und Thymian duftete.
»Dorothea … bitte sag mir, dass es kein Traum ist!«
Die Stimme klang tief und rau und hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Es war die Stimme, die sie seit Jahren in den Stunden unsäglicher Einsamkeit und Traurigkeit vernommen hatte. Die ihr Trost gespendet und gleichzeitig Schmerz zugefügt hatte. Gestützt auf einen starken Arm, wankte sie bis zu einer der Droschken und ließ sich auf den Sitz helfen.
»Fahren Sie uns aus der Stadt hinaus! Ganz gleich, in welche Himmelsrichtung«, sagte die Stimme, und dann setzte sich das Gefährt langsam in Bewegung.
Dorothea war unfähig, irgendetwas zu sagen. Ganz fest hielt sie die sehnige Hand umklammert, betrachtete das Gesicht mit den Grübchen neben dem Kinn und den zerzausten Locken, durch die sich vereinzelte Silberfäden zogen. Kniff die Augen zu und riss sie wieder auf, starrte und staunte und schüttelte den Kopf, da ihr Verstand noch immer nicht anerkennen wollte, was ihre Augen sahen.
»Wieso bist du in Costa Rica?«, hörte sie die atemlos geflüsterte Frage dicht an ihrem Ohr.
Erneut überfiel sie ein Zittern, sie bebte am ganzen Körper. »Weil ich hier lebe. Aber wieso bist du hier? Ich dachte, du seist …« Sie schluchzte auf, weil die Erinnerung an den Schmerz und die Verzweiflung von damals sie mit aller Macht überfiel.
Eine zärtliche Hand bettete ihren Kopf an der vertrauten Schulter. Sie schloss die Augen und seufzte leise auf.
»Nie hätte ich mir vorstellen können, dir noch einmal zu begegnen … Erzähl mir alles, was geschehen ist, nachdem wir uns zum letzten Mal gesehen haben!«, bat Alexander und schlang ihr einen Arm um die Schulter, zog sie fest an sich.
Und mit einem Mal, als die Droschke über einen schmalen Weg inmitten von Zuckerrohrfeldern holperte, kehrten die alte Vertrautheit und Sicherheit zurück. Dorothea holte tief Luft und schilderte stockend, wie sie im April achtundvierzig sehnsüchtig auf einen Brief des Verlobten gewartet hatte. Sie erzählte von dem Zeitungsartikel über Ausschreitungen in Berlin und von ihrem Besuch beim Chefredakteur der Kölnischen Zeitung, von dem sie erfahren hatte, dass Alexander bei dem Aufstand ums Leben gekommen war. Von der unnachgiebigen Haltung ihrer Eltern, von der Schwangerschaft und der tragischen Fehlgeburt. »Damals glaubte ich, ich hätte dich ein zweites Mal verloren. Ich wollte nicht mehr leben, wäre am liebsten auch gestorben«, bekannte sie zitternd und vergrub das Gesicht in dem groben, grauleinenen Anzugstoff.
Alexander trocknete zuerst ihre, dann seine Tränen. Er küsste sie hingebungsvoll, streichelte ihr über das Haar und flüsterte Worte voller Zärtlichkeit. Endlich konnte sie ein Kapitel ihres Lebens abschließen, jetzt, da sie ihre Trauer mit dem Geliebten geteilt hatte. Eine tiefe Ruhe überkam sie. Und dann berichtete sie von ihrer Überfahrt und der ersten Zeit in Costa Rica, von Jensen, ihrer Heirat, ihrer Ehe mit Antonio und von den Kindern.
Während sie sprach, hatte Alexander mehrfach leise aufgestöhnt und sie noch enger an sich gezogen. Als sie geendet hatte, erzählte er seine Geschichte. Wie bei dem Aufstand zwei Kugeln seine Schulter durchschlagen hatten und er bewusstlos in ein Hospital eingeliefert worden war, wo die Ärzte um sein Leben kämpften, weil er viel Blut verloren hatte.
»Erst später erfuhr ich, dass in einer ersten Eilmeldung unter den Toten auch mein Name genannt worden war. Man hatte mich mit einem August Weinsberg verwechselt. Nach zwei Monaten wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen und fuhr noch am gleichen Tag zu deinen Eltern nach Köln. Deine Mutter verhielt sich recht abweisend. Sie sagte, du seist inzwischen verheiratet und nach Süddeutschland gezogen. Die Briefe, die ich dir vom Krankenbett aus geschrieben hatte, gab sie mir ungeöffnet zurück.«
»Wie konnte sie nur so etwas behaupten und sich als Schicksalsgöttin aufspielen? Dazu hatte sie kein Recht!«, entfuhr es Dorothea voller Bitternis. »Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich schon auf dem Schiff nach Costa Rica. Doch außer meiner Patentante wusste niemand davon … Und du musstest annehmen, ich hätte dich hintergangen«, fuhr sie leise und traurig fort.
»Zuerst sträubte ich mich dagegen. Aber weil
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