Das Land zwischen den Meeren
Kiste und fächelte sich schwer atmend Luft zu. Dorothea ging geradewegs auf die Empfangsloge zu, in der sich ein Amtsdiener mit einem Brieföffner seelenruhig die Fingernägel säuberte.
»Ich bin Señora Ramirez. Bitte führen Sie mich zum Polizeipräsidenten! Ich muss ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen.«
Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf, wobei ihm seine viel zu große Mütze in die Stirn rutschte. »Das tut mir leid, Señora, aber unser Herr Polizeipräsident ist in einer dringenden dienstlichen Angelegenheit nach Cartago gereist. Er kehrt erst morgen wieder zurück.«
Dorothea konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Mit einer solchen Auskunft hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Das würde die Rückkehr der Mädchen um einen weiteren Tag verzögern. Den Gedanken, mit dem Stellvertreter zu verhandeln, verwarf sie nach kurzem Nachdenken wieder. Ein Gespräch mit ihm würde zu keinem Erfolg führen, denn er würde ganz sicher behaupten, von einer Schließung der Casa Santa Maria nichts zu wissen, und sie an seinen Vorgesetzten verweisen. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Ihre Schützlinge befanden sich auf der Hacienda in Sicherheit und hatten nichts zu befürchten. Die absurden Vorwürfe würden sich rasch entkräften lassen. Sie hatte an diesem Vormittag also noch Zeit, die sie für sich nutzen konnte, und beschloss, in der Kirche für einen guten Ausgang ihrer heiklen Mission zu beten.
Der große schlanke Mann schlenderte ziellos durch die Gassen, die ihm wie mit einem Lineal gezogen vorkamen. San José war ihm nicht sonderlich vertraut. Er war erst zum zweiten Mal in der Landeshauptstadt, in der es an diesem Samstag im Mai, beim allwöchentlichen Markt, quirlig und laut zuging. In den regenarmen Monaten, wenn die Zufahrtswege trocken und gut passierbar waren, kamen an einem solchen Tag bis zu achttausend Besucher in die Stadt.
An den Buden, die mit gräulichem Segeltuch überspannt waren, bot man die essbaren Erträge des Landes feil. Palmfrüchte, Pomeranzen, Orangen, Mais, Bohnen, Grenadillos und sogar die recht seltenen und daher kostspieligen, Kartoffeln. Daneben auch nützliche Waren aus fernen Ländern wie Geschirr aus Frankreich, Messer und Scheren aus Deutschland, Sättel und Pferdegeschirre aus England. Der Mann probierte einen Hut mit breiter Krempe aus feinstem Stroh an, der von geschickten Frauenhänden von der Kopfmitte beginnend geflochten und danach in Form gebügelt worden war. Ganz vorsichtig, damit die einzelnen Halme ihre runde Form behielten und nicht wie geplättetes Schilfgras aussahen. Er entschied sich für ein Modell mit schwarzem Hutband, lehnte dankend ab, als der Händler vom Nachbarstand ihm einen Rosenkranz aufnötigen wollte, und setzte den Hut gleich auf.
Das Stimmengewirr und das dichte Gedränge zwischen den Ständen kamen ihm fremd vor. Fast sehnte er sich nach der Stille menschenleerer Strände, der Lautlosigkeit des nächtlichen Dschungels und der Einsamkeit abgelegener Bergdörfer. Wenn er sich in die Natur zurückziehen konnte, fühlte er sich stark. Doch nun war es an der Zeit, in die Zivilisation zurückzukehren. Jedenfalls für eine Weile.
Er wandte dem Markttreiben den Rücken und schritt hinüber zur Kirche. Eine Frau stand vor dem Portal, blinzelte in die Sonne und suchte in ihrer Rocktasche nach einer Münze. Das Geld drückte sie einer Bettlerin in die Hand, die sich an Krücken schwerfällig über den Platz schleppte. Er näherte sich der Frau, die mittelgroß war und somit größer als die meisten der Ticas. Eine zugewanderte Europäerin, vermutete er. In der Art, wie sie die Füße voreinandersetzte und den Kirchplatz überquerte, lag etwas Anmutiges, Scheues und dennoch Selbstverständliches. Sie trug ein hellblaues Kleid, dessen Schnitt die schmale Taille auf reizvolle Weise betonte. Eine unerklärliche Anziehungskraft ging von dieser Unbekannten aus, die von einer lichtflirrenden Aura umgeben schien. Er beschleunigte seinen Schritt, befürchtete er doch, die Frau könne in eine Droschke steigen und davonfahren, ohne dass er ihr in die Augen geblickt hatte. Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, blieb sie plötzlich stehen und wandte ihm das Gesicht zu.
»Alexander?« Sie brachte den Namen kaum über die Lippen, so sehr fürchtete sie, ihn vergebens ausgesprochen zu haben. Dabei wollte sie sich doch nicht länger von ihrer Fantasie irreleiten lassen. Welcher Täuschung war sie diesmal erlegen? Das Herz schlug ihr
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