Das Land zwischen den Meeren
sich ihre Schultern berührt, und Dorothea war überzeugt gewesen, ihr Herzklopfen müsse noch am gegenüberliegenden Flussufer zu hören gewesen sein.
Und nach dem Neujahrsfest war sie Alexander in ein neu eröffnetes Tanzlokal am Heumarkt gefolgt, wo er sie nach einer feurigen Polka das erste Mal auf die Wange geküsst und sie beim Abschied diesen Kuss zitternd erwidert hatte. Dem viele weitere gefolgt waren. Erst sanfte, unschuldige und dann innige, hingebungsvolle Küsse, die in ihr die Hoffnung geweckt hatten, dass Alexander es ernst meine und ihr schon bald einen Antrag machen werde.
Ihr Herz tat vor Freude einen Sprung, als sie den Freund auf sich zueilen sah. Schon von Weitem hatte sie ihn an seiner grauen Filzmütze erkannt, die immer ein wenig schief auf dem zerzausten Haar saß. Die Seiten seines nur halb zugeknöpften schwarzen Wollmantels sprangen bei jedem Schritt auf.
»Mein edles Fräulein, darf ich wagen, Ihnen meinen Arm und Geleit anzutragen?«, fragte er gut gelaunt und überdeutlich, sodass alle Vorbeikommenden es hören konnten. »Goethes Faust, mein Lieblingstheaterstück«, raunte er ihr schmunzelnd zu.
An seinem Augenzwinkern war zu erkennen, dass er viel lieber ihre Taille umfasst, sie hochgehoben und herzhaft geküsst hätte. Doch sie befanden sich in der Öffentlichkeit, wo es die Regeln des Anstandes und der Schicklichkeit zu wahren galt. So jedenfalls hatte Dorothea es dem Freund eingeschärft, nachdem er sie einmal beim Abschied leichtfertigerweise beinahe umarmt hätte. Ein älterer Mann blieb stehen und betrachtete die formvollendete Begrüßungsszene mit wohlwollendem Nicken. Mit der Linken nahm Alexander die Mütze vom Kopf und hielt sie sich vor die Brust. Dabei konnte er gerade noch verhindern, dass seine abgewetzte braune Ledertasche, die er sich unter den Arm geklemmt hatte, zu Boden fiel.
Mit der Rechten griff er nach Dorotheas Hand, neigte sich mit einer schwungvollen Bewegung vornüber und hauchte einen Luftkuss in gefährlich geringem Abstand auf ihren Handrücken. Er senkte die Stimme. »Du siehst hinreißend aus, meine Liebste. Trägst du heute wieder dieses hellblaue Mieder, das ich beim letzten Mal durch einen offen stehenden Knopf an deiner Bluse schimmern sah? Ich möchte unbedingt herausfinden, was sich unter dem Mieder befindet.« Er grinste frech und weidete sich an ihrer Verlegenheit.
»Alexander! Wie kannst du so etwas sagen? Du solltest dich schämen«, zischelte Dorothea ihm zu und blickte sich verstohlen nach allen Seiten um. Hoffentlich hatte niemand der Passanten diese anzüglichen Worte gehört.
»Schämen? Weil ich die Wahrheit gesprochen habe? Niemals!«
»Hast du mich etwa hierher bestellt, um mir das zu sagen?«
»Um ganz ehrlich zu sein … nein. Aber nun komm, ich erzähle dir alles im Gewächshaus.«
Dorothea runzelte die Stirn, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas missfiel. Sie räusperte sich und sprach nunmehr laut und klar. »Mein Herr, mir ist es ebenfalls eine Freude.« Mit erhobenem Kopf und energischen Schritten eilte sie auf das verschnörkelte Eisentor zu.
Die Gartenanlage im Schatten der Dombaustelle erstreckte sich zwischen Marzellenstraße, Trankgasse, Hexengässchen und Maximinenstraße. Gern erinnerte Dorothea sich an einen Ausflug, den sie und ihre Klassenkameradinnen mit Schwester Hildegardis, die an der Nonnenschule in der Kupfergasse Pflanzenkunde unterrichtete, hierher unternommen hatten.
Alexander, der Dorothea um anderthalb Köpfe überragte, musste sich sogar beeilen, mit ihr Schritt zu halten. Er reichte ihr seinen Arm, den sie jedoch absichtlich und mit vorgestrecktem Kinn übersah.
»Nun sei mir nicht gram, holde Schönheit. Ich habe es doch nicht böse gemeint, ich wollte dir ein Kompliment machen.« In gespielter Verzweiflung legte er sich beim Gehen eine Hand aufs Herz, die andere hob er wie zum Schwur. Dabei rutschte seine Tasche zu Boden, zahlreiche eng beschriebene Papierbögen verteilten sich auf dem Kiesweg.
»Siehst du, die Strafe folgt auf dem Fuß.« Obwohl Dorothea nicht zur Schadenfreude neigte, sah sie doch mit einiger Genugtuung zu, wie der Freund leise fluchend die Blätter einsammelte und in die Tasche packte. Beim Weitergehen tat er auf einmal einen Satz zur Seite und konnte gerade noch verhindern, in einen frischen Hundehaufen zu treten. Bürger Kölns, schützet diese Anlage und haltet die Wege frei von menschlichem Kehricht und Hundekot , war auf einer Warntafel zu lesen, die unmittelbar am
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