Das lange Lied eines Lebens
nachgehen können, bevor mein Sohn dir alles offenbart hat? Dann hast du dich schwer getäuscht!
Mein Sohn wird damit beginnen, dass Mr Kinsman und seine Frau eine Amme besorgten, die ihn säugte. Danach wird er darlegen, wie diese fürstliche Nahrung ihn kräftigte (und zweifellos das Merkmal »groß« hinzufügen – dabei ist mein Sohn bis auf den heutigen Tag nicht groß). Im Kirchlein am Stadtrand wurde er auf den Namen Thomas getauft – nach einem der zwölf Apostel Jesu Christi. Obwohl er sein Bett in der Hütte der Bediensteten im Haushalt der Kinsmans aufschlagen musste, wird mein Sohn dir versichern, dass er als vollwertiges Mitglied der Familie angesehen wurde, genau wie die beiden Söhne der Kinsmans, James und Henry. Natürlich musste er arbeiten für seine Verpflegung, doch seine Haushaltspflichten – den Hof ausfegen, die Hühner füttern – waren nicht drückender als die eines beliebigen Hausdieners. Und an Sonntagen durfte er zum Essen an demselben Tisch Platz nehmen wie die Familie. Von seinem zweiten Lebensjahr an war mein Sohn kein Sklave mehr, sondern ein freier Mensch.
Mr Kinsmans Mission war die »Errettung der Wilden«. Er glaubte daran, dass unter seiner und Gottes Anleitung selbst der schwärzeste Neger von einem finsteren Heiden in einen gebildeten Mann verwandelt werden könne. In seiner Schule genoss mein Sohn eine christliche Erziehung, und Mr Kinsman verpflichtete sich, für das Baptist Magazine in London einen Artikel über seine Lernfortschritte abzufassen. Am
Tag seiner Einschulung erhielt mein Sohn ein Paar Stiefel aus feinstem Leder. Noch heute hängen diese kleinen Stiefel in seinem Arbeitszimmer von einem Haken an der Wand. Stiefel an einer Wand! Wegwerfen will er sie nicht, denn die beiden brüchigen Lederstiefel enthalten sämtliche ihm lieb gewordenen Erinnerungen an die Kinsmans und seine Schulbildung.
Ach, sieh nur, wie die Augen meines Sohnes vor Freude leuchten, wenn er sich die Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ins Gedächtnis zurückruft, die er täglich in der Missionsschule der Baptisten verbrachte. Er las ausgezeichnet und mit Sorgfalt in der Heiligen Schrift und konnte mit beträchtlichem Wissen über weltliche wie über heilige Geografie aufwarten. Jeden Mittwoch wurde er auf seine Kenntnisse der biblischen Altertümer hin geprüft, anschließend wurden – für das allgemeine Examen – die Symbole, Figuren, Gleichnisse und bemerkenswertesten Textstellen der Bibel abgefragt. Von zweihundertachtunddreißig Kirchenliedern – das sind alle, die im Sunday Scholar’s Companion enthalten waren – konnte mein Sohn jedes Wort hersagen. Und seine Rechenkünste reichten bis hin zu den gemeinen Brüchen.
Alljährlich wurde auf dem Kirchhof ein Schulfest abgehalten, zu dem sich im Schatten der Orangenbäume die Mitglieder der Gemeinde einfanden, um das Wunder der gelehrigen kleinen Neger der baptistischen Missionsschule zu bestaunen. Sogar July kam einmal hinzu und machte große Augen. Und mein Sohn – der in einer weißen Kniehose dastand, seine Stiefel an den Füßen, die Hände vor der Brust gefaltet, den Kopf erhoben, den Mund weit aufgerissen wie eine Kröte, die Lungen gebläht mit Melodie – führte den kleinen schwarzgesichtigen Chor beim freudigen Gesang des Kirchenliedes Eternal God we look to Thee an.
Als Mr Kinsman seinen Artikel für das Baptist Magazine fertiggestellt hatte, veröffentlichte er ihn unter dem Titel »Die
Pflanzung eines Baumes des Herrn. Außergewöhnlicher Erfolg einer guten christlichen Erziehung bei einem Negerfindling auf der karibischen Insel Jamaika«.
Mein Sohn war dieses Baptistenpfarrers ganzer Stolz. Geh und frag ihn selbst. Mit bescheidenem Zögern (das freilich nicht lange vorhält) wird mein Sohn berichten, wie oft Mr Kinsman und seine gottgefällige Frau Jane an ihm offenbar größeres Vergnügen fanden als an ihren eigenen Söhnen. Als es für James Kinsman und seine Familie nach Abschluss ihrer Missionsarbeit an der Zeit war, Jamaika zu verlassen und nach London zurückzukehren, konnte sich niemand in diesem Haushalt vorstellen, von der Insel abzusegeln, ohne meinen Sohn mitzunehmen. Und als er an Bord eines Schiffes namens Apolline mit der Familie nach England aufbrach, war er nicht etwa ein Bediensteter, o nein, er war »der bemerkenswerte Negerjunge Thomas Kinsman«.
Solange mein Sohn das Lied seines jungen Lebens singt, wird er nicht einen Schluchzer und nicht einen Seufzer ausstoßen. Und doch
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