Das lange Lied eines Lebens
lange im Besitz meines Sohnes gewesen wie die kleinen Lederstiefel, und allem Anschein nach hatte er die leider vergilbten und brüchigen Seiten dieses Dokuments mit nicht weniger Sorgfalt gehütet. Er verlange, dass seine Mama es durchlese, sagte er. So tat ich denn, wie mir geheißen.
Ach, geneigter Leser, stell dir meine Überraschung vor, als ich in diesem erhabenen Band auf einen Aufsatz stieß, der von keiner anderen als der Frau des Baptistenpfarrers verfasst war – der frommen, gottgefälligen Jane Kinsman! Darin schrieb sie über die Zeit, als sie – mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Jamaika lebend – ein vor der Tür der Pfarrei ausgesetztes Negersklavenkind gefunden hatte. Nachdem sie das Kind bei sich aufgenommen und auf den Namen Thomas hatte taufen lassen, machte sie sich daran, herauszufinden, wer diesem Sklaven wohl das Leben geschenkt hatte. Jemand in der nahe gelegenen Stadt (in ihrem Aufsatz gab sie nicht an, wer) glaubte, das Baby sei das Wurm einer Haussklavin namens July. Stell
dir vor, Julys Name war dort abgedruckt, und ganz England konnte ihn lesen!
Die Geschichte ging damit weiter, dass die Haussklavin July in den Gärten von Amity von Jane Kinsman heimlich angesprochen wurde. Als der Sklavin aufging, dass die Frau, die vor ihr stand, ihr Wurm bei sich aufgenommen hatte, begann sie vor Furcht zu zittern. Sie flehte Jane Kinsman an, ihren Sohn zu behalten, da ihre Missus (in dem Aufsatz wurde Caroline Mortimers Name zwar nicht erwähnt, aber alle hätten Bescheid gewusst, da es auf Amity keine andere Missus gab) andernfalls entschlossen wäre, ihr Sklavenbaby zu verkaufen. Dann schreibt unsere Verfasserin (weitschweifig und in einem sehr schwerfälligen Stil, der durchaus einen leichteren Tonfall hätte vertragen können), dass sie genau dies getan habe – sie habe dem Sklavenmädchen versprochen, ihr Kind selbst aufzuziehen, damit es nicht verkauft werde.
Ach, geneigter Leser, was musste ich über die Art und Weise lachen, wie die Frau des Missionars in ihrer Schilderung fortfuhr. Als sie der Sklavin versicherte, sie werde gut auf ihr Kind aufpassen, sei diese so mitleiderregend dankbar gewesen, dass sie auf die Knie gefallen sei und ihr schniefend und weinend die Hände geküsst habe. Und weißt du, was? Es stimmt, geneigter Leser! Genau so muss July sich an jenem Tag verhalten haben; wie sonst hätte sie die weiße Frau dazu bewegen sollen, ihr schwarzes Baby großzuziehen?
Doch dann setzte Jane Kinsman (in diesem allzu rührseligen Aufsatz voll übertriebener Selbstachtung, wie er bei weißen Frauen damals so beliebt war) hinzu, dass sie das kleine Sklavenmädchen (das heißt, unsere July) gefragt habe: »Ist dein Sohn auch im Matrimonium geboren?«
Da habe die arglose, treuherzige und einfältige Negerin geantwortet (dies sind Jane Kinsmans Worte, geneigter Leser, nicht meine): »Nein, Missus, im Wald is’ er geboren – wo is’ denn das, Matrimonium?«
Geneigter Leser, ich kann dir versichern und will es so unmissverständlich formulieren, wie es nur geht – July hätte der weißen Missus so etwas Törichtes nie gesagt, weder damals noch sonst wann! Ha!
Mein Sohn pflichtet mir bei; ich muss mich beeilen, zu meiner Geschichte zurückzufinden, bevor eine andere dumme weiße Frau daran denkt, sich ihrer zu bemächtigen und in meinem Namen eine unsinnige Mär auszuspeien. Doch bevor mein Sohn mich einer weiteren Unwahrheit bezichtigt, gestatte mir, dass ich eine kleine Berichtigung anbringe.
Erinnerst du dich noch, geneigter Leser, jener mitternächtlichen Stunde, da die Sklaverei endete? Der Seiten in meiner Geschichte, die davon erzählen, wie der wunderliche Sarg, der alle Unterdrückung enthielt, in der Erde vergraben wurde? Jener außerordentlichen Nacht, da Molly July zärtlich umarmte? Nun, an dieser Stelle muss ich mit meiner Berichtigung ansetzen. Soweit deine Erzählerin weiß, hat Molly in ihrem ganzen Leben niemanden umarmt. Und July war gar nicht in der Stadt, um von dem wunderbaren Trubel jener Nacht Zeugnis abzulegen. Deine Erzählerin hat die Chronik jenes Ereignisses in den Seiten eines anderen Buches entdeckt – dessen Titel mir nicht länger geläufig ist.
Denn ich befürchtete schon, du würdest meine Geschichte sehr fade finden, falls unsere July bei den Feierlichkeiten, als die Neger endlich von den Ketten der Sklaverei befreit wurden, nicht vor Freude umherhüpfte. Doch leider befand sich July, wie du gleich nachlesen wirst, in jener
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