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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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niederschreibe? Ich bin mir sicher, die Weißen in den Verlagshäusern Englands, von denen mein Sohn mit so vollmundigem Lob spricht, lauschen mit gierigen Ohren, was immer eine Geschichtenerzählerin zu erzählen hat. Die sagen doch nicht: »Oh, erzählen Sie uns von den Schurkenstreichen dieses Menschen oder von der bösen, bösen Tat jenes
Menschen.« Nein. Die sind für jedwede Geschichte dankbar. Aber nicht so mein Sohn.
    Diese Geschichte ist mein Werk. Ich erzähle sie zu meinem Zeitvertreib. Mir auszudenken, was July widerfuhr, ist meine Sache. Mein Sohn sollte sich seinen Zorn lieber für jene Teile seines Haushalts aufsparen, die es verdienen, alle Wut zu spüren, die er aufbieten kann – so lautete meine Antwort.
    »Mutter«, sagte er zu mir, »hältst du mich etwa für einen Dummkopf? Das ist die Geschichte deines Lebens und nichts von dir Erschaffenes, das sehe ich doch.«
    »Nein, ist sie nicht«, antwortete ich ihm.
    »Doch«, sagte er.
    »Sie ist mein Werk«, antwortete ich ihm.
    »Nein – es ist die Geschichte deines gelebten Lebens«, sagte er mir.
    »O nein, ist es nicht.«
    »O ja, ist es wohl.«
    Für meinen empfindlichen Magen setzten wir diesen übertriebenen Streit zu lange fort. Und die ganze Zeit über drohte mir mein Sohn mit dem Zeigefinger. Es gehört sich nicht, dass ein Sohn seiner Mama mit dem Zeigefinger droht, richtig ist es andersherum. Und er schnaufte und schnaubte, ich müsse ihm unbedingt erzählen, weshalb er ausgesetzt worden sei, und nichts als die Wahrheit sagen.
    Manchmal engen seine Forderungen mich genauso ein wie das Korsett, in das man mich schnürt, um mich als Dame zu präsentieren.
    Aber ich muss tun, worum mein Sohn mich bittet. Sonst wache ich womöglich noch auf und finde meinen Handkoffer – mit meinem Stück Spitze und meinem gesprungenen blauweißen Teller – vor dem Tor zu seinem Haus wieder, und meine schmerzenden alten Knochen noch dazu. Mein Sohn mag über diese Befürchtung den Kopf schütteln, seine alte Mama aber hat diese Möglichkeit in seinem Auge aufblitzen sehen.

    Insofern muss ich auf dieser Seite bestätigen, dass July in der Tat ein Sohn geboren wurde. Nach schmerzhaften Geburtswehen – denn July war noch ein junges Mädchen, das nicht die notwendige Beckenbreite besaß, um den riesigen Kopf des Kindes mühelos herauspressen zu können – wurde Nimrods Sohn in diese Welt gesetzt.
    Der Sohn war nicht o-beinig (anders als der Mann, der ihn gezeugt hatte), und bislang noch hat er einen dichten Haarschopf. Damals aber besah sich July das winzige Neugeborene und hielt es für das hässlichste schwarzhäutige Wurm, das sie je gesehen hatte. Da hast du’s, diese Worte sind die reine Wahrheit – findet mein Sohn daran etwa Freude? Er hat eine Mama, die, als sie sah, dass ein Kind von ihr schwarz wie ein Nigger war, angeekelt die Lippen schürzte. Und selbst wenn mein Sohn seine Erzählerin jetzt darum bitten sollte, dieses getreue Detail abzuändern, so war es nun einmal.
    July hatte nicht die Absicht, dieses verkorkste schwarze Negerbaby zu stillen. Aber sie wollte es auch nicht auf einem Haufen Zuckerrohrabfall aussetzen, wo es quäken, oder in einem Wald, wo es wimmern würde. Sie fand weder die Kraft, es zu ersticken, noch den Willen, es im anschwellenden Fluss zu ertränken. Nachdem sie ihren Sohn zwei Tage lang vor aller Welt versteckt gehalten hatte, entschloss sie sich dazu, ihn dem Pfarrer zu überlassen. Denn July hatte sagen hören, dass die Pfarrer predigten, selbst grauslich-grässliche Sklaven mit wulstigen Lippen und mit Nasen, flach wie Mühlsteine, seien Kinder Gottes. Also wickelte sie ihr Wurm in groben Stoff, band ihm ihr rotes Tuch um den Kopf und ging in einer mondlosen Nacht den Steinpfad entlang zum Haus des Baptistenpfarrers. Dort legte sie ihr Baby auf einen Stein am Tor, und kein Zögern durchzitterte ihre Brust. Der Prediger würde ihm ein Obdach bieten – das wusste sie. Und genau das, geneigter Leser, tat der Prediger auch.

    Willst du mehr wissen, geneigter Leser, ist es an dir, meinen Sohn zu bitten, dir von jenen Tagen zu erzählen. Wird er sich dann vor rasender Wut auf die Brust trommeln oder sich Tränen des Jammers über den Verlust seiner Mama aus dem umwölkten Auge wischen? Nein, das wird er nicht. Eher wird er dir eine fröhliche Weise über das angenehme Leben bei dem englischen Prediger James Kinsman und seiner frommen, gottgefälligen Frau Jane vorsingen. Glaubst du etwa, du wirst deinem Tagwerk

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