Das lange Lied eines Lebens
könntest du mit dem Gedanken spielen, July streng zu beurteilen. Aber, geneigter Leser, wollte deine Erzählerin von Julys Leben zu jener Zeit berichten, du würdest keine süße Melodie hören, sondern abstoßende Missklänge. Du würdest den Kopf abwenden. Du würdest rufen: Lügen! Du würdest diese Seiten überspringen und mich anflehen, dich in bessere Tage zu entführen.
Soll ich dich etwa nötigen, nachzulesen, wie viele Male Caroline Mortimer befahl, July zur Strafe für ihre Missetaten während jener Ausschreitungen in den Stock zu schließen? Soll ich dir eine Szene ausmalen, damit du dir vorstellen kannst, wie die stechende Sonnenglut Julys Haut zu Blasen verbrannte und ihr den Mund ausdörrte, sodass sie keinen Speichel und keinen Atem mehr hatte, um die Geschöpfe oder Wesen zu verscheuchen, die sie während dieser langen Nächte quälten?
Oder vielleicht sollte ich hübsche Worte finden, die erklären, was Patience in jenen Tagen widerfuhr? Wie sie, nachdem der Massa auf dem Kirchhof zur letzten Ruhe gebettet worden war, in der Hoffnung, Godfrey zu finden und ihn zu seinem angestammten Platz zurückzubringen, die Gereizten zu besänftigen und die Aufgaben in der Küche zu verteilen, von Amity aus zur Stadt gegangen war. Auf der Straße wurde sie von der Miliz ergriffen, die sie beschuldigte, eine entlaufene Aufständische zu sein. Für ihr Vergehen erhielt sie fünfzig Peitschenhiebe. Möchtest du, dass ich die Platzwunden auf ihrem Rücken beschreibe? Willst du wirklich das jammervolle Gebrüll hören, das sie von sich gab, als der stinkende Lappen, mit dem ihre Wunden bedeckt worden waren, entfernt wurde? Vielleicht liegt dir daran, ihr beim Sterben zuzuschauen? Oder die Qualen zu sehen, die Miss Hannahs Seele verfinsterten, sodass sie zwei Tage nach Patience ins Grab kroch? Sollen wir uns den beiden Leichenzügen zugesellen? Vielleicht, um Florence und Lucy zu begleiten, welche die zerlumpte Molly stützen – die tobt und kreischt aus Angst, verkauft zu werden? Geneigter Leser, möchtest du Byron weinen hören?
In diesen düsteren Tagen wurde unsere July – jenes Mädchen, das du kennengelernt hast, das ihre Missus um den kleinen Finger wickeln und Molly zu Tränen reizen konnte, jenes lachende Mädchen, das auf ihrer schmutzigen Schürze durch den ganzen Speisesaal gerutscht war, das mutwillig ein Bettlaken auf den Tisch gebreitet und Wein aus dem Fenster gereicht hatte –, wurde unsere July also von ihren versehrten Lebensgeistern verlassen und schied bald darauf hin. Und an ihrer Stelle kam unsicher ein verwelktes, trauriges Mädchen hereingewankt. Diese July, mit Augen, trüb wie Spülwasser, war eine so furchtsame junge Frau, dass das Gebell eines Hundes, das Schlagen einer Tür, das Klappern eines hingefallenen Löffels sie erzittern ließ, als schwanke die Erde unter ihr. Allmorgendlich rätselte sie, ob sie wirklich erwacht war, denn wie in ihren
Träumen sah sie an jedem Baum, den sie erblickte, inmitten der raschelnden Blätter und hängenden Früchte ihre verlorene, wieder gefundene, dann wieder verlorene Mama baumeln. Jeder Bissen, den sie verzehrte, schmeckte nach Nimrods Blut. Und stets bedrohte sie das leise Dröhnen galoppierender Pferde unter ihren Füßen.
Diese unglückliche July zögerte nicht. Sie ersann eine Geschichte, die davon handelte, dass das schwarzhäutige Baby, dem sie das Leben geschenkt, mit dem ersten Atemzug, den es getan hatte, starr und grau gestorben war.
Und deshalb kann ich nicht weitererzählen. Deshalb ist meine Geschichte zu Ende. Denn ich weiß, so garstige Geschichten wie diese willst du, geneigter Leser, nicht erzählt bekommen. Und bitte glaube deiner Erzählerin, wenn sie erklärt, dass sie nicht den geringsten Wunsch verspürt, sie zu Papier zu bringen. Das wünscht sich nur mein Sohn. Denn er ist der Meinung, dass seine Mama jede Kleinigkeit von Neuem durchleiden soll. Tatsächlich, genau das will er!
ACHTZEHNTES KAPITEL
Geneigter Leser, mein Sohn hat sich beruhigt! In seine Augen ist wieder Freundlichkeit eingekehrt. Ungeachtet dessen, was du auf den letzten Seiten erfahren haben magst, bitte ich dich, nicht schlecht von Thomas Kinsman zu denken. Er ist ein guter Sohn und mit gesenktem Kopf zu seiner Mama gekommen, um beschämt Abbitte zu tun.
In der Hand trug er eine Broschüre, die, wie er mir mit kindlicher Leidenschaft erklärte, eine Ausgabe der Zeitschrift der Baptistenmission in England war. Offenbar war diese Publikation fast so
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