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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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der Versammlung fielen auf die Knie, andere murmelten mit angehaltenem Atem Gebete oder wiegten sich im Rhythmus eines leise gesungenen Kirchenliedes. Bis der Pfarrer plötzlich beide Arme gen Himmel streckte und rief: »Das Monster ist tot. Der Neger ist frei!«
    Obwohl es bereits Mitternacht war, glühte die Erregung, die aus der Menge aufstieg, so hell, als ob die aufgehende Sonne das festliche Ereignis bescheinen wollte. Als der Sarg mit der Aufschrift »Die koloniale Sklaverei, verstorben am 31. Juli 1838 im Alter von 276 Jahren« in die Erde hinabgesenkt wurde, kam eine freudige Brise auf. Sie stammte von den Jubelrufen, die ungezügelt aus allen Kehlen brachen. Als die Handschellen, die Ketten und die Halseisen, die in das lang ersehnte Grab geworfen wurden, auf dem Totenschrein der Sklaverei aufschlugen, erbebte die Erde. Denn in diesem Augenblick schüttelten sämtliche Sklaven der Insel gleichzeitig die Bürde ihrer Knechtschaft ab.

    Als der Pfarrer darum bat, dem Allmächtigen schallender als die Trompeten von Jericho Dank für diese Erlösung abzustatten und die Gebäude Londons mit einem Hurra für die neue Königin von England, die sie befreit habe, erzittern zu lassen, tat Molly etwas Seltsames: Sie schlang die Arme um July und zog sie eng an sich. Und dann …

SIEBZEHNTES KAPITEL
    Ich kann nicht weitererzählen! Geneigter Leser, meine Geschichte ist zu Ende. Schließe das Buch und geh deinem Tagwerk nach. Du hast alles gehört, was ich über ein Leben auf der Zuckerinsel zu erzählen habe. Dieser elende Federhalter wird nicht länger Tinte verklecksen, um unserer Figur July nachzuspüren. Ich werde ihn für immer ruhen lassen.
    An diesem glühend heißen, staubigen Tag hat deine Erzählerin Qualen und Demütigungen erlitten, denen sie nicht länger standhalten kann. Mein Sohn Thomas ist in einem Zustand heftiger Gemütsbewegung zu mir gekommen – die pulsierende Ader an seinem Kopf hämmerte und pochte, als dränge sie ans Licht. (Dabei blieb seine Miene so beherrscht wie die eines Mannes, der sich nach meiner Lieblingsfarbe erkundigt – Rot oder Blau? Denn das ist der Charakter meines Sohnes; nie wird er einen mit Worten anhauchen, um auszusprechen, was er vorhat – er gibt einem andere Zeichen.)
    Ich sorgte mich nicht, denn ich glaubte, sein Verdruss habe seinen Grund in dem Gelärm und Geschrei, das sich jüngst in unserem Haushalt erhoben hatte. Lillian und ihre Töchter Louise, Corinne und May waren in letzter Zeit wegen jeder Lappalie aneinandergeraten. Dergleichen hast du noch nicht gehört, geneigter Leser.
    Heute Morgen bei Tisch begrüßten mich die drei boshaften Mädchen, jede hatte ihre große Schmolllippe so weit vorgeschoben, dass mir der Appetit auf meinen Maisbrei verging. Und die Ursache? Ihre Mama verlangt von ihnen, dass sie rosa
Haarbänder tragen, wenn die Mode Gelb vorschreibt. »Dann tragt doch Gelb«, sagte ich ihnen. Sie hätten kein gelbes Band, klagten sie, bevor sie knallend und krachend jede Tür im Haus zuschlugen. Wenn solche Aufregung herrscht, vibrieren nicht nur die Fußböden. Deshalb glaubte ich, mein Sohn habe mit Lillian und seinen Mädchen wegen ihres schlechten Benehmens böse Worte gewechselt.
    Als mein Sohn zu mir ins Zimmer trat, holte er die Seiten hervor, die du soeben gelesen hast, und wedelte mit ihnen vor meinem Gesicht herum. Zunächst war ich überrascht, dass ich selbst die Person war, die derartige Gefühle in ihm wachrief – ich, seine alte und gebrechliche Mama. Dann überraschte mich die Frage, die er beantwortet haben wollte: »Und was ist mit dem Sohn, dem July das Leben geschenkt hat?«
    Er hatte die Frage so derb gestellt, dass ich schon glaubte, er wolle mir einen teuflischen Streich spielen. Also entgegnete ich: »Was redste ’n da?«
    Er stieß einen Seufzer aus, denn mein Sohn ist ein solcher Gentleman, dass er es vorziehen würde, wenn seine Mama nicht so ungehobelt sprechen, sondern Verzeihung sagen würde, als wäre sie eine vornehme weiße Missus. »Oh,Verzeihung, mein Sohn, aber habe ich deine Worte richtig verstanden?«
    »Mutter«, fuhr er fort, »July hat einen Sohn zur Welt gebracht, und den hat sie vor der Haustür des Baptistenpfarrers ausgesetzt. Warum berichtest du in deiner Erzählung nicht auch davon?«
    Geneigter Leser, diese Worte schlugen mir so heftig ins Gesicht, als hätte mein Sohn die Hand gegen mich erhoben. Was verlangte er da von mir? Will er etwa auch noch bestimmen, was ich auf diesen Seiten

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