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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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»Weißer Teufel, Massa.«
    »Was in aller Welt hat er da gesagt?«, fragte der Aufseher July.
    »Hat gesagt: Weißer Teufel.«
    »Was meint er damit?«
    »Teufelsfisch, Massa.«
    »Fisch! Ach, schon wieder Fisch. Ich finde, Rindfleisch hört sich viel besser an – meinst du nicht auch, Miss July? Bitte richte deiner Herrin aus, dass ich ihre Einladung dankbar annehme. Ich würde sehr gern Rindfleisch essen … in ihrer Gesellschaft natürlich.«
    Und als ein breites Lächeln sein Gesicht erhellte, erkannte July, dass ihre Missus ausnahmsweise einmal recht hatte – er hatte tatsächlich die blauesten Augen der Welt.

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    Am Rande der Stadt, auf einer ruhigen Straße, trocken und staubig wie ein Mehlfass, geht unsere July. Ihr Auftrag an diesem heißen, heißen, ausgedörrten Tag lautet, in der Stadt hellgelbe Glacéhandschuhe für ihre Missus zu kaufen – »mit Bolton-Daumenschnitt, Marguerite, falls es die gibt«. Denn jetzt, da Caroline Mortimer an ihrem Tisch oft einen Gast zu bewirten hat, sind ihre vielen Paar Handschuhe einfach zu schmutzig.
    Wie July so die Straße entlangging, kam sie an einer Gruppe von Negern vorbei, die im Schatten einer Veranda erschlafft waren und Pfeife rauchten. Einer von ihnen rief schläfrig ihren Namen. Sie bemühte sich, den Mann, der sie da ansprach, im Schatten des Dachgesimses zu erkennen, und hob alsbald die Hand, um zu winken; es war Ebo Cornwall, der afrikanische Schlingel, der sie oft mit Kerzen und Töpferware versorgte. Eine zerlumpte alte Negerfrau, die sich mit einem müden, störrischen Esel abplagte, setzte sich auf die Straße und fächelte sich mit einem Bananenblatt zu, bevor sie sich umdrehte und mit hungrigen Augen July anstarrte. An der Ecke begannen zwei Schweine einen kleinen Streit, der die Krähen auf den Dächern über ihr störte, sodass sie krächzten und mit den Flügeln schlugen. Ein Hund raffte sich auf in Erwartung einer Jagd, besann sich aber anders, streckte die Pfoten und rollte sich wieder zum Schlafen zusammen. Ein junger Neger, der an einem offenen Fenster saß, wischte sich den Hals mit einem nassen Tuch und rief ihr zu: »Hey, Miss, Miss, hübsche Miss«, aber July nahm ihn gar nicht zur Kenntnis. Denn ein Karren, den ein halsbrecherisch
rennender Junge schob, rollte an ihr vorüber, und seine wackligen Räder wirbelten eine solche Staubwolke auf, dass sie ihr in die Kehle stieg.
    Als sich July an jenem Tag den beißenden Staub aus den Augen wischte, löste sich eine auffällige Erscheinung aus dem schmutzigen Dunst.Vom anderen Ende der Straße her tauchte eine hochgewachsene Frau auf. Eine hochgewachsene und graziöse Frau. Eine hochgewachsene und graziöse farbige Frau, die ganz in Weiß gekleidet war. Sie ging … nein … sie glitt – denn weder Ferse noch Zeh dieser goldenen Schönheit schienen die feste Erde zu berühren – auf July zu. Auf dem Kopf trug sie einen weißen Turban; der war mit einer langen Feder geschmückt, die so hoch aufragte, dass sie Gott am Kinn kitzelte. Die Ärmel ihres Musselinkleides bauschten sich wie zarte Wölkchen an einem Sonnentag. Von dem Band um ihre schmale Taille fiel die verschwenderische Stofffülle ihres Rockes wie eine Kaskade schäumenden Wassers zu Boden. Und der Saum dieses wunderbaren Gewandes war über und über mit gestickten Blumen verziert, gerade so, als wäre dieses schöne Wesen durch den Garten Eden gewandelt, und alles, was hübsch war, hätte sich an den Saum geheftet. Der befranste Schirm, den das hellhäutige Mädchen zwischen den Fingern drehte, übertraf selbst die Sonne an Helligkeit.
    July mochte das rote Tuch auf ihrem Kopf zurechtrücken, soviel sie wollte – sie fühlte sich unwürdig, in Gegenwart dieser hellhäutigen Schönheit zu verweilen. In ihrem hässlichen grauen Rock mit dem Riss am Knie, der mehr schlecht als recht mit schwarzem Zwirn geflickt war, in ihrer verblichenen Bluse, an deren abgewetzten Manschetten kein Knopf mehr saß, und in ihrer Haut natürlich, die so hässlich schwarz war, sah July anstößig wie eine Feldniggerin aus. Doch als July auf der schäbigen Straße weiterging, um sich mit gesenktem Kopf an der eleganten Miss vorbeizudrücken, hörte sie: »Ah, Miss July, gehste heut in die Stadt?«

    Auf einmal merkte July voller Abscheu, dass die farbige Frau, die sie so verklärte, Miss Clara war. Nun ja, hätte July ihre hochmütige Gestalt eher erkannt, wäre die Begegnung gar nicht zustande gekommen. Denn mit einem Sprung

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