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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Goodwins Diener Joseph vorsprechen, einem dürren Mann von fünfunddreißig Jahren, der bei allem und jedem, was er sagte, wie ein dreißig Jahre jüngeres Wesen kicherte.
    July, die den neuen Aufseher beobachtete, verstand nicht recht, was er da trieb. Denn der junge weiße Mann bewegte sich mit solcher Grazie – ein leichter Schritt, ein Hüpfer, eine Drehung, ein leichter Schritt, ein Hüpfer, eine Drehung –, als halte er nicht schmuddelige Jungen zur Arbeit an, sondern tanze eine Quadrille. Und die Anstrengung brachte ihn so in Schweiß, dass ihm sein schwarzes Haar feucht und in gekringelten Strähnen am Hals klebte und sein weißes Hemd unter den Achselhöhlen von dunklen Flecken verunstaltet war.
    Als der Aufseher zu guter Letzt July in der Tür stehen sah, hob er den Zeigefinger zu einem kurzen Gruß und bedeutete ihr zu warten, bevor er sich von ihr abwandte. Doch ebenso hastig wandte er sich wieder zu ihr um. Und dann betrachtete der Aufseher July mit derselben Hingerissenheit wie Elias, wenn er auf ihre Brüste starrte. Von dem tropfnassen Tuch auf ihrem Kopf bis zu dem Schlamm, der ihren Rocksaum herabzog, musterten seine Augen sie aufmerksam. Erst als ein Junge rief: »Kommt, Massa, seht«, wurde seine Aufmerksamkeit von ihr abgelenkt. Wieder gab er July ein Handzeichen und sagte: »Einen Moment. Ich komme gleich«, bevor er sich dem kauernden Jungen widmete.

    »Ich hab welche, Massa!«, rief der Junge und hielt etwas in den Händen, das der Aufseher sich ansehen sollte.
    Der Aufseher sagte: »Gut, gut, ausgezeichnet…«, und begann sich zurückzuziehen. Doch der Junge folgte ihm, als gehorche er einem Tanzpartner. Als der Mann versuchte, den ausgestreckten Händen des Jungen auszuweichen, wäre er beinahe über einen umgestürzten Stuhl gestolpert. »Gut, ja, ja, mach nur weiter«, befahl der Aufseher. »Ich muss … Ich muss mich kümmern …«
    Worum er sich »kümmern« musste, das war July, und so sagte er gleich darauf zu ihr: »Du bist ja ganz nass.« July öffnete den Mund, um ihre Botschaft zu übermitteln, wurde jedoch unterbrochen, als der Aufseher lächelnd bemerkte: »Ich glaube gar, ich sehe Dampf von dir aufsteigen.« Doch dann trat ein finsterer Blick an die Stelle des Lächelns. »Hat dich deine Missus etwa in diesem Sturm mit einer Botschaft zu mir geschickt?«, fragte er. In seinem Ton schwang solche Erregung mit, dass July, die geübt darin war, alles abzustreiten, was mit Leidenschaft vorgetragen wurde, fast geschrien hätte: »Nein.«
    »Ich kann’s nicht fassen«, fuhr er fort. »Selbst sie sollte von dir nicht verlangen, dass du bei diesem Wetter hinausgehst.«
    Dann begann der Aufseher voller Eifer, ihre Missus mit Schmähungen zu überhäufen.Was nur konnte so wichtig sein?, fragte er. Er habe noch nie jemanden gekannt, der so viele Forderungen stelle, sagte er. Warum nur müsse sie so viele Botschaften überbringen lassen? Er habe sie doch erst heute Morgen gesehen, was könne denn jetzt so wichtig sein?
    Bald war die Luft so gesättigt von Anschuldigungen, dass July eine merkwürdige Sorge um ihre Missus beschlich. July befürchtete schon, sie würde ihre fettarschige Missus womöglich noch in Schutz nehmen und lauthals verkünden müssen, dass Mrs Caroline Mortimer so abscheulich nun auch wieder nicht sei. Zum Glück ließ er ihrem Mund keine Gelegenheit dazu, denn er sprach genauso schnell, wie Hagelkörner auf ein Dach prasseln.

    »Mein Vater«, fuhr er fort, »hat mich immer gelehrt, dass selbst Bedienstete mit Respekt behandelt werden müssen und nicht nach Lust und Laune hierhin und dorthin kommandiert werden dürfen. Doch ich fürchte, im Lauf der Zeit haben die jamaikanischen Pflanzer gelernt, sich anders zu benehmen.«
    Und dann hielt er inne und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Mit verschränkten Armen und fest zusammengepressten Lippen blickte er finster vor sich auf den Schreibtisch – untersuchte ihn so gründlich, als liege dort seine verloren gegangene seelische Kraft verstreut.
    Nun konnte July endlich ihre Botschaft überbringen und hätte dies auch getan, wenn nicht in diesem Augenblick zwei große braune Hunde in den Raum gestürzt wären. Unbeholfen tapsten sie umher, glitten aus und scharrten über die Holzdielen, prallten gegen July und stießen sie gegen den Schreibtisch des Aufsehers. Sofort sprangen die Negerjungen auf die Beine und rannten auf die verspielt bellenden Hunde zu, um sie fortzuscheuchen. Als die Jungen hinter den Hunden

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