Das lange Lied eines Lebens
July.
»Dein Papa soll ’n Weißer sein?«, höhnte Miss Clara. »Bist viel zu dunkel, als dass dein Papa ’n Weißer sein könnt.« Denn dafür musste Julys Haut hell sein. Nur einen Farbton zwischen Honig und Milch konnte Miss Clara akzeptieren. In ihrer Gegenwart durfte weder Bitterschokolade noch Ebenholz zum Tanze schreiten.
»Ich sag die Wahrheit, Miss Clara. Mein Papa war ’n Weißer.«
»Nein, war er nich’.«
»War er wohl.«
»War er nich’ – war ’n Nigger.«
»War der Aufseher auf Amity.«
»War er nich’.«
»War Schotte.«
»Schotte! Du sagst nich’ die Wahrheit.«
Der Zank zwischen den beiden ging so lange weiter – zu lange, als dass ich Einzelheiten aufführen könnte –, dass Tam Dewar hineingezogen wurde. Jawohl, geneigter Leser, Tam Dewar! Denn du und ich, wir beide wissen, dass er tatsächlich Julys Papa ist. Und in Julys Erzählung wurde ihm noch mehr Bedeutung zugewiesen.Angesichts von Miss Claras Verachtung verwandelte er sich in Julys Geschichte von Grund auf; war nicht länger der erbarmungslose und brutale Aufseher, als den sie ihn kannte und der ihr fast den Verstand geraubt hätte, indem er sie erst in Wirklichkeit und jetzt in jedem ihrer vermaledeiten Träume verfolgte. Nein. Da er ein Weißer war, wurde er jetzt Julys heiß geliebter Papa, der ihr, bevor er von einer grauenerregenden Niggerin erschlagen worden war, versprochen hatte, sie eines Tages nach Schottland mitzunehmen.
»Bin ’ne Mulattin, ’ne Mulattin, ’ne Mulattin, hörste, Miss Clara!«, beteuerte July, bis Miss Clara ganz erschöpft war und sich widerstrebend erbot, sie genauer zu untersuchen.
In einem kleinen Zimmer, im nachlassenden Licht beim Fenster, ging Miss Clara zu Werk. Zuerst maß sie mit dem Zeigefinger die Breite von Julys Nase, bevor sie July umdrehte, um nachzusehen, wie weit ihre Nase aus dem Gesicht ragte. Denn eine breite, flache Nase wurde nicht geduldet. Dann starrte Miss Clara in Julys Augen. War deren Farbe das viel bewunderte Grün, das heiß ersehnte Grau, das inständig erflehte Blau oder nur ein stumpfes Braun? Miss Clara nahm July das Kopftuch ab und befühlte ihre Haare. Sie hob sie an, um zu sehen, ob sie herabfielen oder July zu Berge standen. Die Haare mussten glatt sein. Am besten glatt mit leichten Locken, ob nun hell, braun, rot oder schwarz. Denn kein Strubbelkopf sollte sich je um ihre weißen Männer wickeln oder kräuseln. Sie forderte
July auf, den Mund zu öffnen und die Lippen vorzustülpen. Dann kniff Miss Clara hinein, um zu prüfen, wie wulstig sie waren, bevor sie July aufforderte, den Mund wieder zu schließen und ihr das Profil zuzuwenden. Wulstlippen durften bei ihren Zusammenkünften keinen Porter oder Punsch nippen. Und dann beurteilte Miss Clara ihre ganze Gestalt mit bedächtigen, gemessenen, forschenden Blicken, die July zwei, drei, vier Mal von oben bis unten abtasteten. Denn ohne einen Hauch von englischem Weiß eignete sich July nicht.
»Deine Lippen sind nich’ so schlecht«, verkündete Miss Clara schließlich. »Und auch deine Nase is’ nich’ zu breit. Aber deine Haare sin’ nich’ glatt. Und deine Haut – deine Haut is’ einfach zu dunkel. O nein, nein, nein, eignest dich nicht. Hast zu viel Negerblut in dir. Meine Männer mögen nur weiße Haut und ’n hübsches Gesicht. Und dein Kleid, Miss July, warum trägste nich’ eins von den Kleidern von deiner Missus? Oh, jetzt erinner ich mich, die is’ ja so dick.Aber dein Kleid, das is’ das Kleid von ’ner Hausniggerin. Bist einfach nich’ fein genug, Miss July. Nein, nein, nein.«
Miss Clara gab July keinen Tritt, um sie zu verjagen, denn eine so derbe Geste würde sie niemals gutheißen. Und obwohl July bei diesen verächtlichen Bemerkungen die Arme auf der Brust verschränkte, ihre nicht zu breite Nase in die Luft hob und zu Miss Clara sagte, sie wolle auf ihrer dummen, dummen Tanzveranstaltung gar nicht herumhopsen, eines Tages werde sie einen Jig auf Miss Claras Grab tanzen, und sie wisse sehr wohl, dass ihr geheimnisvoller Guavengelee Rum und Zimt enthalte und sie ihn kochen könne, wann immer sie Lust dazu habe – so spürte unsere July doch, als sie abgewiesen wurde, weil sie zu hässlich sei, um Abnehmer zu finden, auf ihrem Hintern den kräftigen Abdruck von Miss Claras hübschem, blassem Fuß in seinem Pantöffelchen.
Seit jenem Tag hatte July Miss Clara nicht mehr gesehen. Doch nein, ich muss mich korrigieren: Seit damals hatte Miss Clara July nicht mehr
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