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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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abscheulichste Insekt, das du je gesehen hast, auf den Schreibtisch herab, und zwar genau vor dem Aufseher. Diese Missgeburt von einem Insekt musste der Koloss des Schabenreiches sein; denn das Tier war so unermesslich groß, dass der blau-weiße Teller, auf dem es
gelandet war, unter seinem harten Panzer zu zerbrechen schien und die kleinen Orangenkerne, die auf dem Teller verstreut lagen, in die Luft hüpften wie Springbohnen.
    Nun denn. Dass der Aufseher, als er die Kreatur landen sah, von seinem Stuhl hochfuhr und starr vor Furcht stehen blieb, so viel ist gewiss. Dass er vom Schreibtisch drei Saltos rückwärts zur anderen Seite des Zimmers machte, dass seine Beine wie die eines neugeborenen Kalbes zitterten, dass er sich die Haare raufte und wild aufschrie wie eine verrückt gewordene Missus, mögen meine Leser schwerlich glauben, doch in Julys Erinnerung geschah es genau so. Der weiße Mann war zu Tode erschrocken – Tränen der Furcht bedeckten sein Gesicht, als er wie eine im Netz gefangene Motte vor July umherflatterte.
    July war schnell zur Hand, um das hässliche Insekt vom Teller zu klauben und mit voller Wucht zu Boden zu schleudern. Das gut gepanzerte Tier aber schlug wie ein weggeworfener Stein auf, dann drehte es sich mir nichts, dir nichts auf den Bauch und begann davonzukrabbeln. July musste es mit dem Absatz zertreten. Da endlich barst der Panzer mit dem Knacken und Spritzen einer aufplatzenden verfaulten Kokosnuss.
    Der Aufseher heftete seinen verwunderten Blick auf July – er war sprachlos. Bis er tief ausatmete und dabei langsam »Da-da-danke« stotterte. Dann kam wieder Leben in ihn. »In diesem Haus sind einfach zu viele Schaben«, seufzte er. »Sie sind überall. Gestern lag eine auf meinem Kopfkissen. Als ich zu Bett ging, zog ich das Laken zurück und sah sie da sitzen.«
    »Sind doch nur Krabbeltiere«, erwiderte July. »’s gibt viele davon auf der Insel, Massa, se tun nichts. Hab keine Angst vor ihnen.«
    »Nein? Nun, jetzt weißt du, dass dein Herr große Angst vor ihnen hat«, sagte er. »Und du kannst mich auslachen, soviel du willst. Wer wollte es dir verdenken? Du kannst jedem, den du triffst, erzählen, wie lächerlich der neue Aufseher sich benimmt,
wenn Schaben in seiner Nähe sind.Verheimlichen kann ich das jetzt nicht mehr, oder?«
    Als er sich wieder auf seinen Stuhl am Schreibtisch gesetzt hatte, sagte er: »Schau dir das an! Der Teller ist gesprungen.« Er reichte July den blau-weißen Teller. July wusste, dass der Sprung nicht von der Schabe stammte, doch als sie den Teller entgegennahm, starrte sie auf das Muster. Und er fragte sie: »Gefällt er dir?«
    »O ja«, antwortete sie. Und ehe sie sich’s versah, erzählte sie ihm: »Seht, der Teller enthält eine Geschichte. Da sind fliegende Vögel, und der Fluss hat eine kleine Brücke, die…« Als sie indes spürte, wie gespannt er sie anstarrte und ihren dummen, dummen Träumereien lauschte, vergaß July plötzlich alles, woran sie gedacht hatte, und stockte. Sie hielt ihm den Teller hin, damit er ihn zurücknahm.
    »Behalte ihn«, sagte er.
    July glaubte, nicht richtig gehört zu haben, und hielt ihm den Teller noch näher hin. Aber er schüttelte den Kopf. »Nimm den Teller, wenn er dir gefällt. Nimm ihn als Bezahlung dafür, dass du mein Leben gerettet hast.«
    Noch nie hatte ein weißer Mann July etwas so Kostbares geschenkt. Jetzt war es an ihr, sprachlos zu sein. Doch als er fragte: »Sag mal, wie heißt du eigentlich? Deine Herrin nennt dich Marguerite, aber Elias nannte dich…«, da unterbrach ihn July und sagte deutlich: »Miss July.«
    »Miss July? Warum nennt deine Herrin dich dann Marguerite? «
    »Sie glaubt, das is’ ’n hübscher Name für ’ne Sklavin. Jetzt kann se keinen andern mehr sagen nich’.«
    »Nun«, meinte der Aufseher, »darf ich dich Miss July nennen?«
    »’türlich, Massa, ’s is’ ja mein richtiger Name.«
    »Nun, Miss July, was für eine Botschaft bringst du?«
    Fast hätte July vergessen, weswegen sie vor diesem Mann stand. »O ja«, begann sie, »meine Missus will, dass Ihr zum
Abendessen kommt, sie hat Rindfleisch, das muss aufgegessen werden.«
    »Rindfleisch! Ich habe schon seit einiger Zeit kein Rindfleisch mehr gegessen. Rindfleisch. Das bringt mich in eine Zwickmühle.« Plötzlich lehnte sich der Mann auf seinem Stuhl zurück und rief über die Schulter: »Joseph, was kochst du heute zum Abendessen?«
    Aus der Küche kam ein kurzes Kichern, dann brüllte sein Diener:

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