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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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fröhlich aus dem Zimmer liefen, rief der Aufseher: »Wartet, wartet!« Dann seufzte er hilflos auf und sackte tiefer auf seinem Stuhl zusammen. Nur Elias war geblieben.
    July schickte sich abermals an, ihre Botschaft auszurichten, doch dann trat Elias zum Schreibtisch des Aufsehers und stellte eine Schachtel vor ihn hin. Diese Holzschachtel, nicht größer als ein Servierteller, enthielt ein hässliches Gekribbel zappelnder schwarzer Schaben. Einige waren tot, andere halb zerquetscht, die einen krabbelten über die anderen, um sich zu befreien, einige lagen auf dem Rücken und strampelten mit den Beinchen in der Luft, andere in ihrer Not kratzten mit ihren gepanzerten Schalen und ihren zuckenden Fühlern am Holz der Schachtel, in der sie sich hin und her wanden. Elias war weggerannt, kaum dass er das Behältnis hingestellt hatte. Er nahm keine Notiz von dem Aufseher, der sich sofort in seinem Stuhl aufsetzte und ihm nachrief: »Elias, lass das nicht hier!«
Als sein Boy antwortete: »Komm gleich, Massa«, klang seine Stimme leise und wie aus weiter Ferne.
    Und auf einmal begriff July den Grund für das Trara und Tamtam – der Aufseher versuchte, sein Haus von Hunderten und Tausenden Schaben zu befreien, die dort mit ihm lebten.
    Robert Goodwin warf einen hastigen Blick auf July, die noch immer auf ihn hinabstarrte, hustete in seine Hand und rückte dann entschlossen ein Tintenfass, eine Feder und einen kleinen blau-weiß gemusterten Teller – auf dem die vertrockneten Kerne einer Orange lagen – von der Schabenschachtel ab. Daraufhin schluckte er schwer, setzte sich auf seinem Stuhl zurück, kreuzte die Arme, holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und sagte zu July: »Du hast eine Botschaft für mich?«
    Endlich.
    »Meine Missus«, begann July, »will wissen …« Doch der Blick des Aufsehers verweilte nicht lange auf ihr, sondern wanderte wieder zu den rastlosen Kreaturen in der Schachtel. »Sie hat Rindfleisch«, sagte July und hoffte, ein gieriger Magen würde seine Aufmerksamkeit auf sie lenken.
    »Rindfleisch…«, wiederholte er achtlos.
    »Meine Missus lässt fragen – ob Ihr kommen wollt und zum Abendessen Rindfleisch essen. Im Pferch is’ ’ne Färse geschlachtet worden, und meine Missus …«
    »Färse …«, sagte er.
    July wollte schon schreien: »Ein Tiger frisst die Missus auf, und ein Affe trägt ihren Unterrock!« »Tiger … Affe …« – bestimmt wäre das die sanft und gleichgültig dahingesprochene Antwort des Mannes gewesen, denn sein ganzes Augenmerk galt jetzt der Schachtel. Als eine mutige Schabe ihr raues Bein über den Rand hakte und allen, die unten noch am Leben waren, zurief, ebenfalls die Flucht anzutreten, schob der Aufseher langsam seinen Stuhl vom Schreibtisch weg.
    »Also, was soll ich meiner Missus sagen?«, fuhr July fort.

    Aber der Aufseher brüllte nur: »Elias, komm und bring die scheußliche Schachtel weg!«
    Er erhob sich rasch von seinem Sitz, eilte zur Tür und schrie: »Ich bezahle dich dafür, dass du sie fängst und wegschaffst. Komm sofort zurück! Ich verlange, dass du sofort zurückkommst, Junge.«
    Bald erschien Elias vor ihm. Er grinste, wie nur mutwillige Negerjungen es tun. »Hab noch mehr gefunden, Massa. Wollt Ihr kommen und se sehen?«, sagte er.
    »Nimm die Schachtel mit. Lass sie verschwinden. Und lass sie nicht wie beim letzten Mal auf der Veranda liegen. Schaff sie weg. Hast du verstanden? Töte die Schaben und schaff sie weg.«
    Elias griff nach der Schachtel, bemerkte gleich darauf Julys Brüste, hielt einen Moment inne, um sie anzustarren, und sagte dann: »Hab noch mehr Schaben gefunden, magste se sehen? Zeig se dir, Miss July.« July gab Elias weder eine Kopfnuss, noch befahl sie ihm mit harschen Worten: »Nimm se mit, oder du kriegst ’ne Schelle, dass dir den ganzen Tag die Ohren klingen.« Sie warf ihm nur einen durchdringenden Blick zu und stampfte fest mit dem Fuß auf – das genügte bei ihr. Elias trug die eklige Schachtel hinaus, als trage er ein Tablett voll kostbarer Juwelen durch einen Sumpf, denn keine durfte herausfallen und an seinem pingeligen Massa vorbei heimwärts huschen.
    Der Aufseher setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, dann sah er July an und sagte: »Es tut mir sehr leid. Kannst du die Botschaft deiner Herrin bitte noch einmal wiederholen?«
    Als July den Mund öffnete – um noch einmal über die Färse und das Rindfleisch und das Abendessen zu reden –, fiel von einem Deckenbalken das größte, schwärzeste und

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