Lisbeth 02 - Ein Mädchen von 17 Jahren
1
Am oberen Stockwerk wurde leise eine Tür geschlossen. Dann hörte man leichte, schnelle Schritte auf der Treppe, und gleich darauf trat Lisbeth in die Stube. „Jetzt schläft er endlich! Aber, Mutti – was soll ich antworten, wenn er fragt, wie alt Gott ist, und ob die Engel in der Nacht die Flügel ablegen?“
„Antworte doch, daß du es nicht weißt!“
Lisbeth lachte.
„Ja, das habe ich auch gesagt. Aber da blickte er mich vorwurfsvoll an und sagte: ,Das weißt du nicht und bist doch so groß?’ – Und da versuchte ich, ihm von den Wichtelmännern zu erzählen. Aber davon wollte er nichts hören. Es müssen durchaus Indianergeschichten mit möglichst vielen Skalpen sein. Er ist schrecklich blutdürstig.“
Ich seufzte. Kein Zweifel: mein Sohn stand im Begriff, in eine neue Phase seines Lebens einzutreten. Die Zeit der blonden Locken, des munteren Kindergeplauders und der Wichtelmänner war endgültig vorüber. Er fühlte sich als Junge, interessierte sich für Autos, sprach sachkundig über die verschiedenen Flugzeugtypen und protestierte laut und energisch gegen übertriebene persönliche Reinlichkeit. Kurz:mein Sohn Peik hatte das respektable Alter von sechs Jahren erreicht, und seine Entwicklung auf dem Weg zum Mann nahm ihren normalen Verlauf.
„Du, Mutti! Leihst du mir deine blaue Tasche?“
„Weiter nichts?“
„Nein – das heißt – nein, ich brauche nichts weiter.“
Lisbeth machte einen verzweifelten Versuch, ihre langen Beine zu verstecken; aber es war zu spät. Ich hatte meine neuen Nylonstrümpfe schon gesehen.
„Hör mal, Lisbeth, wie oft soll ich dir denn noch sagen, daß – – “
„-----daß du deine eigenen Sachen zum Anziehen hast,liebe Lisbeth, und es paßt mir nicht, daß du die meinen nimmst, und auf jeden Fall sollst du mich vorher fragen, und es ist eine Schande, daß du keine ganzen Strümpfe zum Anziehen hast, wenn du ausgehen willst, – und hast du noch immer nicht die Flecken aus dem gelben Kleid entfernt? Ich weiß nicht, was du dir eigentlich denkst, Lisbeth. Und du mußt deine braunen Schuhe zum Schuhmacher bringen, bevor die Absätze noch schiefer werden – “
Lisbeth ahmte meine Stimme und meinen vorwurfsvollen Tonfall so vollkommen nach, daß ich mich geschlagen geben mußte und laut lachte. So geht es immer. Meine vereinzelten und hilflosen Versuche, Lisbeth Vernunft und Ordnungssinn beizubringen, endeten stets damit, daß wir beide lachten.
Da fühlte ich Lisbeths warme, weiche Wange, die sich an die meine schmiegte.
„Ja, ich bin abscheulich, Ma. Ich weiß es. Aber ist es nicht wenigstens nett von mir, daß ich Peik wasche und zu Bett bringe? Obwohl er mich mit seiner ewigen Fragerei manchmal zur Verzweiflung bringt? Also, Ma, ich haue ab! Bist du nun ganz allein? Kommt Vater nicht bald?“
„Das glaube ich nicht. Es wäre das erste Mal, daß er von seinem Studentenverein früh nach Hause käme. Aber mach dir darüber keine Gedanken, mein Mädchen. Geh nur! Und viel Vergnügen!“
„Und was machst du?“
„Ich? Ach, ich genieße natürlich die Ruhe und den Frieden. Vielleicht raffe ich mich auf und klebe die Bilder vom Sommer in das Album. Und wenn ich meine Tochter richtig kenne, wird es auch nichts schaden, daß ich in ihrem Zimmer etwas Ordnung mache – “
Zu Lisbeths Ehre sei vermerkt, daß sie errötete.
„Tu das nicht, Ma! Ich mache es selber, wenn ich nach Hause komme. Oder morgen früh. Auf Ehre! Im Augenblick habe ich wirklich keine Zeit.“
„Es kommt mir beinahe so vor, Lisbeth, als hätte ich diese Antwort schon einmal gehört – “
„Ja, aber – – “
„Laß es gut sein, mein Kind. Mach, daß du fortkommst! Wenn ich mich nicht sehr irre, höre ich draußen einen Motor pochen.“
Ich irrte mich nicht. Lisbeth schloß mich schnell in ihre Arme und verschwand. Ich trat ans Fenster. Sie kletterte auf den Soziussitz des Motorrads und legte die Hände vertraut und zuversichtlich auf Mortens Schultern. Beide wandten sich um und nickten mir lächelnd zu. Dann fuhren sie los.
Ich blieb einen Augenblick am Fenster stehen. Mir war so warm ums Herz, und ich war so ruhig und glücklich. Oben in seiner Dachkammer schlief Peik – mit roten Backen, rund und gesund. Und meine große Tochter machte eine Motorradfahrt mit diesem prächtigen Jungen, der für sie durchs Feuer ging. Mein liebes großes Mädel mit ihrer Unbefangenheit und ihrem Mangel an Ordnungssinn, mit ihrer Ehrlichkeit und ihrem guten Herzen, mit
Weitere Kostenlose Bücher