Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
hören konnte. »Er ist noch nicht zurück«, sagte ich. »Aber er kommt sicher bald.«
»Ich kann mich nicht bewegen«, sagte Julie. »Ich hab’s versucht, wirklich, aber es geht nicht. Und ich fühl mich ganz komisch, als wäre mein Körper gar nicht mehr mit meinem Kopf verbunden. So ein Gefühl hab ich noch nie gehabt.«
»Schon gut«, sagte Dad und beugte sich vor, um ihr über die Stirn zu streichen. »Du hast dich am Rücken verletzt, sonst nichts. Wart nur ab, bald bist du wieder auf den Beinen.«
Sie sah so klein aus, so jung. Ich küsste sie auf die Wange. »Alex wird stolz auf dich sein«, sagte ich. »Du bist so tapfer.«
»Stinksauer wird er sein«, sagte sie. »Er wird immer sauer, wenn ich irgendwas mache, das ihm nicht gefällt.«
»Er liebt dich mehr als alles andere auf der Welt«, sagte ich.
»Wir sollten lieber reingehen«, sagte Dad. »Wo ist Laura?«
»Sie räumt das Kellerfenster frei«, sagte ich.
»Lauf hin und schick sie nach Hause«, sagte Dad. »Sie soll sich um Julie kümmern, während wir anderen hier weitermachen.«
Ich rannte zu Mom und genoss bewusst das Gefühl der Bewegung. Noch vor wenigen Stunden war ich im Schrank eingesperrt gewesen, aber jetzt war ich draußen und konnte laufen und rennen. Julie konnte das nicht. Höchstwahrscheinlich nie mehr.
Mom schien nur widerstrebend ins Haus zurückzugehen. Nach all den Monaten hatte sie es offenbar genossen, wieder draußen unter freiem Himmel zu sein. Dad nahm ihren Platz am Kellerfenster ein und bestand darauf, dass Jon ihm dort half. Matt räumte den Boden frei und ich kletterte wieder auf den Berg, um den Schutt nach unten zu werfen.
Irgendwann wurde es dunkel, und Dad schickte Jon ins Haus, um Taschenlampen zu holen. Stunden später hatten sie endlich das Kellerfenster erreicht. Es war durch den Sturm herausgerissen worden, aber die Öffnung war zu schmal, als dass Lisa hätte hindurchkriechen können.
Immerhin konnte Dad jetzt mit ihr reden, und als sie ihm Gabriel hinausreichte, konnte er ihn auf den Arm nehmen. Jon wurde nach Hause geschickt, um Lisa etwas zu essen zu holen.
Kurze Zeit später kam Dad zu uns zurück, um uns zu berichten, was er von Lisa erfahren hatte. »Charlie hat sich gegen die Kellertür gestemmt«, sagte er. »Er hat versucht sie aufzudrücken, aber das konnte er natürlich nicht. Lisa weiß nicht genau, was dann passiert ist, weil es so dunkel war, aber sie glaubt, dass er einen Herzanfall bekommen hat. Sie hat gehört, wie er ein ganz seltsames Geräusch gemacht hat, und dann ist er die Kellertreppe runtergefallen. Sie ist zu ihm gelaufen, aber da war schon kein Puls mehr zu fühlen. Wahrscheinlich war er sofort tot.«
Mein erster Gedanke war, dass Charlie meinetwegen gestorben ist. Ich hatte ihm geraten, in den Keller zu gehen. Und um mich zu retten, hatte er versucht die Tür zu öffnen.
Aber das war natürlich Unsinn. Selbst wenn ich tatsächlich Charlies Tod verursacht hatte, hatte ich doch gleichzeitig Lisa und Gabriel das Leben gerettet. Außerdem hatte Charlie ja nicht nur meinetwegen versucht die Tür zu öffnen, sondern auch, um sich und die beiden anderen zu befreien. Aber ich fühlte mich trotzdem schuldig, als sei ich irgendwie für den Tornado verantwortlich, als hätte Julie sich meinetwegen verletzt und als wäre Alex meinetwegen verschwunden.
»Erzählt Lisa bitte noch nichts von Julie und Alex«, sagte Dad sanft. »Jon hab ich auch schon darum gebeten. Ich hab ihr gesagt, dass Julie drüben ist und dass Alex losgefahren ist, um Hilfe zu holen.«
»Wie lange können wir das denn wohl aufrechterhalten, Dad?«, fragte Matt.
Dad packte ihn am Arm. »Solange wir es eben müssen, verdammt noch mal. Und jetzt geht wieder an die Arbeit.«
Was wir taten. Eigentlich wäre ich jetzt immer noch dort. Aber Dad hat beschlossen, dass wir in Schichten arbeiten sollen, und ich wurde ins Haus zurückgeschickt, um etwas zu essen, mich auszuruhen und nach Julie zu sehen. Mom ging los, sobald ich reinkam.
Julie schläft jetzt, aber ich finde keine Ruhe. Ich habe zu viel Angst.
Und mehr als alles andere auf der Welt wünsche ich mir, es wäre immer noch gestern Abend.
11. Juli
Für den Rest meines Lebens werde ich mit einer Lüge leben, deshalb schreibe ich hier jetzt auf, was wirklich passiert ist.
Nein, selbst das ist eine Lüge. Es geht nicht darum, was wirklich passiert ist. Sondern um das, was ich habe passieren lassen. Wenn ich das nicht zugebe, hier und jetzt, dann belüge ich
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