Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
normalen Soldaten. Vielleicht haben sie dann auch lieber einen eigenen Schutzheiligen.«
»Ihr glaubt das alles noch«, sagte ich. »Du und Alex. Trotz allem, was passiert ist, glaubt ihr noch daran?«
Es war dunkel im Wintergarten, nur das Feuer im Ofen gab ein bisschen Licht, aber ich konnte trotzdem die Überraschung auf Julies Gesicht erkennen. »Natürlich«, sagte sie. »Wenn ich im Himmel bin, sehe ich dort Santa Maria, Madre de Dios.«
»Wie sieht es denn im Himmel aus?«, fragte ich. »Weißt du das?«
»Dort muss keiner hungern oder frieren«, sagte Julie. »Und niemand ist allein. Nachts kann man Tausende Sterne sehen, wie auf diesem Gemälde. Und es gibt dort Gärten. Große Gemüsegärten, in denen alles wächst – Tomaten, Radieschen, Stangenbohnen. Die mag ich am liebsten, die Pflanzen der Stangenbohnen.«
»Keine Blumen?«, fragte ich.
»Wer will, kann natürlich auch Blumen haben«, sagte Julie. »Das ist schließlich der Himmel.«
Sie fing wieder an zu husten, mit verzerrtem Gesicht und zuckendem Körper. Ich hielt sie im Arm, tröstete sie und sagte ihr, dass es ihr bald wieder besser gehen würde.
Dann merkten wir beide, dass sie sich in die Hose gemacht hatte. »Tut mir leid«, sagte sie. »Das wollte ich nicht.«
»Ist nicht schlimm«, sagte ich. »Ich hol einen Waschlappen, dann mach ich dich sauber und zieh dir was Frisches an.«
Sie fing an zu weinen. »Geh nicht weg«, sagte sie. »Bitte. Ich hab Alex das Versprechen abgenommen, dass er mich niemals alleine sterben lässt.«
Ich glaube jedenfalls, dass sie das gesagt hat. Vielleicht hat sie aber auch gesagt, dass Alex ihr versprochen hat, sie niemals allein zu lassen. Ich weiß es nicht mehr genau.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte ich. »Sprich doch so lange ein Gebet, während du auf mich wartest. Das würde Alex dir sicher auch vorschlagen.«
Sie fing gleich an, auf Spanisch zu beten, und ich ging rauf in mein Zimmer, holte ein paar frische Sachen und nahm noch Waschlappen und Handtuch aus dem Badezimmer mit.
Wir sollen uns nicht länger da oben aufhalten als unbedingt nötig, weil das Dach jeden Moment einstürzen kann. Aber ich wartete trotzdem noch eine Minute, noch eine Sekunde lang auf dieses Wunder, von dem ich wusste, dass es nie geschehen würde.
In der Küche feuchtete ich den Waschlappen an und schenkte Julie Wasser ein. Vielleicht dachte ich dabei an Alex. Ich weiß nicht genau. Ich weiß nur noch, dass ich den Umschlag öffnete, zwei Tabletten herausnahm und dabei so zitterte, dass ich fast das Glas Wasser verschüttet hätte.
Julie war still, als ich wieder zurückkam. Ich zog ihr Hose und Unterhose aus, machte sie sauber, so gut es ging, und streifte ihr die frischen Sachen über. Dann hob ich sie vorsichtig an, bis sie fast aufrecht saß.
»Ich möchte, dass du die hier nimmst«, sagte ich und zeigte ihr die Tabletten. »Dann musst du nicht mehr so husten.«
»Ich kann sie aber nicht in die Hand nehmen«, sagte sie.
»Nein, stimmt«, sagte ich. »Warte kurz. Ich hol dir einen Löffel.« Ich ließ sie sanft auf die Kissen zurücksinken, ging in die Küche und legte die Tabletten auf einen Löffel. Dann hob ich Julie wieder an und flößte ihr die Tabletten mit dem Löffel ein. Schließlich setzte ich ihr das Wasserglas an die Lippen und beobachtete, wie sie schluckte.
»Sprich noch mal ein Gebet und versuch dann zu schlafen«, sagte ich. »Denk an den Himmel, Julie, dann träumst du was Schönes.«
Ich glaube, sie hat gebetet. Ich glaube, sie hat sich bedankt. Ich glaube, sie hat »brie« und »Papi« gemurmelt. Ich küsste sie auf die Stirn und sagte ihr, dass sie nie wieder Angst haben musste, nie wieder hungrig oder einsam sein würde.
Ich erinnerte mich an ein Gebet, das meine Großmutter mir mal beigebracht hatte. Ich kniete mich neben Julie und legte ihr meine Finger auf den Mund, damit Gott wusste, dass das Gebet für sie war, nicht für mich.
Deinen Frieden, Herr, gib uns vom Himmel,
Und dein Friede bleibe in unseren Herzen,
Lass uns schlafen in Frieden und wachen in dir,
auf dass wir vor keinem Grauen der Nacht uns fürchten.
Als ich nicht länger leugnen konnte, dass sie eingeschlafen war, zog ich vorsichtig eines der Kissen unter
Julies Kopf hervor und drückte es so lange nach unten, wie ich konnte. So lange, bis ich sicher war, dass sie sich – um ihrer selbst und um
Alex’ willen – in der tröstlichen Umarmung der Mutter Gottes befand.
Ich legte das Kissen an seinen Platz
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